Viele Kinder und Jugendliche aus den sozial benachteiligten Pariser Vorstädten haben noch nie das Meer gesehen. Die Stadtverwaltung von La Courneuve bringt zumindest den Strand zu ihnen.

Foto: Der Standard/Brändle

Der Sand ist echt, doch das Meer ist fern: La Courneuve, eine der eher übel beleumundeten Vorstädte von Paris, organisiert während des Sommers ein Strandvergnügen für Daheimgebliebene. Und die sind zahlreich: Laut einer Umfrage der Christlichen Arbeiterjugend (JOC) verreisen 36 Prozent der französischen Jugendlichen aus wirtschaftlichen Gründen nicht in die Ferien - und in den Vororten der französischen Hauptstadt bleiben sogar 47 Prozent der 15- bis 30-Jährigen zu Hause. Anders gesagt: Im Ferienland Frankreich muss die Hälfte der Banlieue-Jugend das ganze Jahr über im Ghetto bleiben.

Ob eine andere Statistik damit im Zusammenhang steht? Nach dem französischen Nationalfeiertag zählte die Polizei allein in den drei Departements des inneren Pariser Vorstadtgürtels 200 ausgebrannte Autos. Diese Zahl, knapp höher als jene aus dem Vorjahr, machte die Zeitung Le Monde publik, obwohl sie das Innenministerium unter Verschluss halten wollte. Die Franzosen sollten nicht die Kehrseite des "Quatorze Juillet" (14. Juli) in Erinnerung bewahren, sondern die Parade auf den Champs-Elysées und das Eiffelturm-Feuerwerk.

Unter anderem, um die Banlieue-Kids vom Autoabfackeln abzuhalten und zu einem konstruktiveren Zeitvertreib zu animieren, organisiert die kommunistische Lokalregierung von La Courneuve im Nordosten von Paris schon seit sieben Jahren die Ferienaktion.

Der Strand von La Courneuve

Und die Einwohner dieser "zone urbaine sensible" gehen tatsächlich in Massen auf den Strand, der zu ihnen gekommen ist: Bis zu 4000 Menschen drängen sich an Sonnentagen auf dem künstlichen Strandgelände, das mit seinen Liegen, Bassins und Topfpalmen etwa so gut in die Wohnblockkulisse von La Courneuve passt wie Saint-Tropez auf den Mond.

Außerhalb der Vorstadt selbst ist die Operation "La Courneuve-Plage" nicht sehr bekannt - im Unterschied zur trendigen "Paris-Plage" im Herzen der französischen Hauptstadt. Dort, am Ufer der Seine, treffen sich die wohlhabenden Pariser, die sich die horrenden Mieten des Stadtzentrums noch leisten können.

In La Courneuve amüsiert sich hingegen eine zumeist am Rand der Gesellschaft lebende, vorwiegend immigrierte Einwohnerschaft - und das zeigt sich auch bei den gebotenen Attraktionen: Da wird neben "Klassikern" wie Beachvolleyball und Kletterwänden auch Tae-Bo angeboten, das asiatische Kampfsportarten mit Aerobic verbindet. Daneben bekommt man kabylische Lieder der Berber Nordalgeriens zu hören und kann ein nigerisches Sonhoye-Zelt besuchen. Ein wenig weiter werden Henna-Tätowierungen gemacht.

"Dieses Jahr versuchen wir vor allem, Familienspiele zu fördern", meint Mokrane Rahmoune, der Sportreferent des Stadtrates. "Auch während des restlichen Jahres unternehmen wir viel, um die Jugendlichen von den Wohntürmen, vor denen sie herumlungern, mit Aktionen wegzuholen. Hier am künstlichen Strand organisieren wir Wasserspiele, über die Generationen hinweg, bei denen sich die Kinder mit ihren Eltern messen und vergnügen können", erklärt Rahmoune. Das habe einen durchaus pädagogischen Sinn: "In vielen verwahrlosten Familien pflegen die Jungen sonst gar keinen Kontakt mehr mit ihren Vätern und Müttern."

In den großen Pool darf hier nur, wer über eine Mindest-Körpergröße verfügt. Gemessen wird beim Einstieg mit einer Holzlatte. Denn in La Courneuve sind die Nichtschwimmer Legion. Wer im Wasser nicht stehen kann, muss ins jeweils kleinere der vier Bassins. Bei den schwarz drohenden Wolken über La Courneuve zieht es aber gerade ohnehin niemanden ins kühle Nass. "Ist ja auch nicht das Meer", meint der zehnjährige Ahib, der in Algerien mit seinem Vater schon einmal an einem richtigen Strand war. "Das war, als ich noch klein war", fügt der Bub hinzu, der von seiner Größe her gerade mal ins dritte Bassin darf, obwohl er sich in den gefährlichen Straßen seines Ortes schon wie ein Großer bewegt.

Aissa (12) hingegen war noch nie am Meer; er will aber trotzdem nicht in den Pool. Er habe Angst vor dem Wasser, bekennt der Sprössling aus La Courneuve, der Stadt mit einer der höchsten Kriminalitätsraten Frankreichs. Aissa baut lieber eine Sandburg: "Ich habe einmal im Fernsehen gesehen, wie das geht." Wetten, dass es das schönste Gebäude von La Courneuve wird. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD; Printausgabe, 2.8.2011)