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Demonstrationen vor dem Sicherheitsgefängnis in Silivri. Das Foto ist ein Archivbild und wurden während den Verhandlungen rund um den Ergenekon-Fall im Oktober 2008 aufgenommen.

Foto: EPA/TOLGA BOZOGLU

Der dritte Geburtstag war letzte Woche Montag. Seither ist eine Armeeführung zurückgetreten, und Oberst Durşun Çiçek hat weiter vor den Richtern geplaudert. Das Dokument mit dem Auftrag für die Internetseiten sei authentisch, sagte der 51-jährige Offizier der türkischen Armee diese Woche Dienstag im Gerichtssaal in Silivri, dem Hochsicherheitsgefängnis außerhalb von Istanbul. Willkommen in der Welt von Ergenekon.

Es dürfte Verhandlungstag 189 gewesen sein. Vor drei Jahren, am 25. Juli 2008, begannen sich die Justizmühlen zu drehen: Die 13. Große Kammer für schwere Straftaten in Istanbul nahm eine Anklageschrift gegen 86 Personen an. Es sollte die erste "Ergenekon"-Anklage sein, sieben weitere folgen bis heute. Die Anklage im Juli 2008 lautete u.a. auf versuchten Staatsumsturz, Bildung einer kriminellen Organisation, Aufstachelung zum Hass. Das Problem: Mittlerweile sitzen mehr als 400 Personen im Zusammenhang mit den Ergenekon-Ermittlungen in Untersuchungshaft, nur 32 sind wieder freigelassen worden, es gab noch keine Verurteilungen oder Freisprüche, ein Ende der Verhaftungswellen ist nicht absehbar.

Bei den jüngsten Anklagen geht es um Propaganda-Webseiten im Internet, mit denen die Regierung von Premier Tayyip Erdogan als inkompetente islamistische Unternehmung angeschwärzt werden sollte. Die Vorwürfe sind aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen betreffen sie wieder einmal die türkische Armeeführung und waren augenscheinlich der Auslöser für den Rücktritt von Armeechef Işik Koşaner und der Befehlshaber von Marine, Luftwaffe und Bodentruppen; zum anderen ist der Tatbestand der Verschwörung vergleichsweise neuen Datums - nämlich April 2009. Bisher basierte der Großteil der Ergenekon-Anklagen auf angebliche Destabilisierungs- und Umsturzpläne zu Beginn der AKP-Regierungszeit 2002 und 2003.

Die Ermittlungen begannen 2010. Ein angeblicher Insider aus der Armee sandte ein Email an die Staatsanwaltschaft, in dem er behauptete, die Stabschefabteilung der Armee habe 42 Webseiten in Auftrag gegeben, auf denen Material gegen die Regierungspartei AKP und religiöse Gemeinschaften der Gülen-Bewegung verbreitet werden sollte. Die Staatsanwaltschaft hat ein Dokument, das acht Unterschriften trägt, darunter auch jene von Oberst Durşun Çiçek. Und der erklärte nun, das Papier sei echt.

Bei "Ergenekon" gibt es prinzipiell drei Schulen: Die Hardcore-Gruppe, die dem türkischen Publikum Tag für Tag in Zeitungskommentaren und politischen Reden einhämmert, dass die Regierung einen gerechten Kampf gegen einen erwiesenermaßen existenten, planvoll gegen den Staat arbeitenden Geheimbund führt, dem amoralische, zu allem fähige Kriminelle in Armee, Medien und Universitäten angehören. Die zweite Schule hält die Verschwörungsvorwürfe zwar für plausibel, hat aber begonnen, an Augenmaß und Unparteilichkeit der Justiz zu zweifeln. Die dritte hält die Ermittlungen für eine Hexenjagd, eine riesige politisch motivierte Inszenierung, um Gegner der AKP mundtot zu machen, aus Institutionen wie der Armee zu entfernen und kritische Geister einzuschüchtern. Der in Istanbul lebende britische Journalist und Türkei-Experte Gareth Jenkins hat in diesem Sinne eine Reihe von lesenswerten Papieren geschrieben, zuletzt im Frühjahr dieses Jahres nach der Verhaftung der Journalisten Ahmet Sik und Neden Sener, absurderweise zwei Ergenekon-Aufdeckern.

Jenkins Analysen werden ebenso engagiert von der regierungstreuen Presse (Zaman, Sabah, Star...) angegriffen, aber auch von Taraf. Diese liberale Tageszeitung, 2007 gegründet, praktisch werbungsfrei, mit unklarer Finanzierung (und unregelmäßigen Gehältern für die Journalisten) und versteckt in einer Etage einer Buchhandlung in Kadiköy, hatte den Großteil der "Ergenekon"-Pläne zugespielt bekommen und damit die Anklagen erst in Gang gesetzt. Die Verschwörungstheorie lautet natürlich, Taraf sei ein Projekt der Gülen-Bewegung. Eine nicht weniger lesenswerte Entgegnung auf Jenkins stammt jedenfalls von dem Taraf-Kolumnisten Yildiray Oğur. Verbreitet wird sie von Genç Siviller, einer gesellschaftlich engagierten Jugendgruppe, von der wiederum behauptet wird, sie zirkuliere - im Gülen-Universum.