Geist in Materie: Steiners erstes Goetheanum, 1913-1922.

 

Foto: Mak

Wien - Die bunten Kreidestriche sehen so frisch aus, als wären sie erst gestern auf die schwarzen Tafeln gezeichnet worden. Noch heute zieht die Dynamik der Skizzen an, mit denen Rudolf Steiner vor bald 100 Jahren seine Vorträge visuell veranschaulichte. Die so eindringlichen wie esoterischen Bilder wurden gleich nach ihrer Entstehung verewigt: Durch Strohhälme geblasenes Fixiermittel sicherte die in der Schau "Rudolf Steiner. Die Alchemie des Alltags" präsentierten Wandtafelzeichnungen.

Der Gründer der Anthroposophie suchte die in einer technokratischen Moderne verschütt gegangene Verbindung zwischen Geist und Materie zu offenbaren. Auch das "Urmotiv" für das Portal des zweiten Goetheanums, dem Sitz der "Anthroposophischen Gesellschaft" im Schweizer Dornach, ist auf einer Tafel zu finden. Der expressionistisch gestaltete Betonbau stellt heute Steiners berühmtesten Beitrag zur Kunstgeschichte dar; dabei wollte er sämtliche Lebensbereiche gestalten. Mit ansprechender Materialauswahl vermittelt die vom Vitra Design Museum konzipierte Ausstellung, wie sich der 1861 geborene Denker die Formwerdung von Spiritualität vorstellte, welche Strömungen seiner Zeit er aufnahm und welches Echo sein Werk im zeitgenössischen Design findet.

Auf einem Foto erscheint der studierte Naturwissenschafter 1919 selbst als Künstler: Im weißen Kittel blickt er auf seine Holzplastik Der Menschheitsrepräsentant, eine Art Christusfigur. Vom Freidenker zum Gläubigen geläutert, verlieh er seinen Visionen Gestalt - trotz mediokrem Ergebnis fasziniert Steiners Umsetzungswille. Dem Laien erlaubte sein universalistischer Zugang den Entwurf von Monumentalbauten, Schriften über Landwirtschaft oder Alternativmedizin. Explizite Ästhetik hat er keine verfasst.

Steiner liebte Holz und Handwerk. Seine Formensprache folgte um 1910 noch dem Jugendstil, bevor sie sich kristallin zuzuspitzen begann. Nur wenige seiner Stühle sind erhalten, dafür zeigt die Schau wuchtig-skulpturale Holzmöbel anthroposophischer Mitstreiter. Anhand von Modellen, Plänen und Fotos werden ausführlich Steiners unrealisierter Münchner Johannesbau, das konventionellere erste Goetheanum und der technisch wie formal mutige Nachfolgebau dokumentiert. Wie eine Stichflamme sieht der gewagte Kamin des benachbarten Heizhauses aus. In der Kolonie rund um den Hauptsitz begann sich des Meisters Design, das den rechten Winkel ablehnte, zum Dogma zu verfestigen.

Gemäß Goethes Lehre maß Steiner Farbe höchste Bedeutung zu und entwickelte sogar Farbkammern für therapeutische Zwecke, in die nun die Ausstellungsbesucher klettern können. Die Vitra-Schau wird im Mak durch Plakate des von der anthroposophischen Farblehre begeisterten Wiener Grafikers Joseph Binder ergänzt. Sein 1934 in Amerika publiziertes Buch Colour in Advertising nahm zentrale Gedanken Steiners auf. Auf diesem Umweg profitierten sogar die Verführungsstrategien der US-Werbeindustrie vom Spiritus rector. (Nicole Scheyerer  / DER STANDARD, Printausgabe, 4.8.2011)