Das amerikanische politische Geschehen ist derart hoffnungslos, dass ich beginne, Hoffnung zu schöpfen. Aus Zorn und Abscheu kommt Energie für Reformen.

77 Prozent der Amerikaner sagen laut einer CNN-Umfrage, dass sich die gewählten Politiker in Washington in der Schuldenkrise "wie verwöhnte Kinder" benahmen. 84 Prozent missbilligen die Art, wie der Kongress seine Aufgaben erledigt.

Warum funktioniert das System so schlecht? Jahrzehntelange Manipulationen zugunsten von Parteien (gerrymandering) haben dazu geführt, dass Politiker sich mehr Sorgen darüber machen müssen, von Kollegen aus der eigenen Partei in Vorwahlen geschlagen zu werden als darüber, wie sie unentschlossene Wähler überzeugen können. Das hat die Tea Party mit prominenten amtierenden Republikanern bei den Midterm-Wahlen letztes Jahr vorgeführt.

Der übertriebene Einfluss des Geldes verzerrt ebenfalls die amerikanische Demokratie. Sonderinteressen und Lobbyisten haben die ganze Gesetzgebung unterwandert. Politiker wieseln nur mehr von einem Fundraising-Treffen zum nächsten. Die Abstimmungsprozeduren im Senat haben sich mittlerweile dahin entwickelt, dass man eine "Supermehrheit" von 60 Stimmen braucht, um zu verhindern, dass Gesetzesentwürfe der Verschleppungstaktik des Filibustering zum Opfer fallen.

Die hysterische Polarisierung ist durch die Kulturkriege seit den Sechzigerjahren und durch die schrille Parteilichkeit von Medien wie Fox News auf der rechten und MSNBC auf der linken Seite nur verstärkt worden, vom Shock-Jock-Talk-Radio ganz zu schweigen.

Während des Kalten Krieges hat das Gefühl der Bedrohung durch die Sowjetunion zur Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg beigetragen, Demokraten und Republikaner aus dem politischen Zentrum trugen dazu bei. Seither haben weder Al-Kaida noch die Konkurrenz Chinas denselben Effekt gehabt.

Gegen Washingtons Duopol

In einem sind sich Demokraten und Republikaner allerdings einig: dass es in dem politischen Match nur zwei Teams geben kann, nämlich sie selber. Die Regeln für den Zugang zur Wahl etwa sind große Hürden für Außenseiter. Es herrscht ein Zwei-Parteien-Kartell, ein Duopol. Dabei sagen zwei von drei Amerikanern mittlerweile, dass sie gerne eine weitere Wahl hätten: einen dritten Kandidaten, von einer anderen Partei oder von gar keiner.

In Kalifornien war die Regierung vor zwei Jahren so weit, dass sie Schuldscheine ausstellen musste, weil sie Rechnungen und Gehälter nicht mehr bezahlen konnte. Und die Manipulation von Wahlbezirksgrenzen war so unverschämt, dass sich an der Sitzverteilung in den Wahlen 2004 überhaupt nichts änderte.

Doch Kalifornien kann auch den Ausweg zeigen. Ein Referendum hat das korrupte Gerrymandering den Politikern aus der Hand genommen. Eine Bürgerkommission präsentierte Karten mit neuen Wahlbezirksgrenzen, die für einen demokratischeren Wettbewerb sorgen sollen. Statt den Vorwahlen der Parteien wird es eine einzige geben, die für alle offen sein wird. Dann kann es sein, dass zwei Demokraten oder zwei Republikaner oder, wer weiß, zwei Unabhängige gegeneinander antreten.

Keiner weiß, wie gut das funktionieren wird - vielleicht ganz anders als beabsichtigt. Aber wenigstens zeigt sich, dass dieses politische System - wollen wir es Demokratie nennen? - die Mittel zur Selbstreform besitzt, während andere Systeme sich nur einer Revolution beugen.

Es gibt jetzt auch einen aufregenden Versuch, etwas Ähnliches auf Bundesebene zu tun, nämlich die Funktionsweise des Systems zu ändern. Er heißt Americans Elect (www.americans- elect.org). Einer seiner Initiatoren, der Investor und Philanthrop Peter Ackerman, hat mit mir darüber gesprochen.

Americans Elect möchte mithilfe des Internets jener Mehrheit der Amerikaner eine Stimme geben, die von dem Duopol Washingtons frustriert sind. Mittels eines Prozesses von Online-Debatten, -Nominierungen und -Abstimmungen möchte die Organisation bis zum 21. Juni 2012 einen glaubwürdigen Präsidentschaftskandidaten aufstellen mit einem Vizekandidaten, der - so wird gefordert - von einer anderen Partei oder unabhängig sein muss. Statt der gegenwärtigen polarisierenden Dynamik in der US-Politik hofft man, einen unwiderstehlichen Magneten in Richtung Mitte aufzustellen. Sowohl die Demokraten wie die Republikaner müssen dann zu dieser Mitte zurückfinden, in der pragmatische Antworten auf Probleme zu finden sind.

Die Organisation hofft, dass das Siegerpaar aus den Online-Stimmen von zumindest 30 Millionen Amerikanern hervorgehen wird. Darüber hinaus sollen diese Kandidaten dann in allen 50 Staaten zur Präsidentschaftswahl stehen. Sie hat bereits systematisch und unter großem Kostenaufwand begonnen, die diversen Hürden zu überwinden, die in den Bundesstaaten einer Nennung auf der Wahlliste entgegenstehen.

Für ein Experiment

1,7 Millionen haben bis jetzt bereits unterschrieben. Alles hängt nun davon ab, was als Nächstes geschieht. Werden genügend von den Millionen unzufriedenen Amerikanern, die die Politiker in Washington für verwöhnte Kinder halten, bereit sein, sich registrieren zu lassen und an der Wahl teilzunehmen? Wird sich das Projekt viral ausbreiten? Wenn ja, werden glaubwürdige Kandidaten dann tatsächlich die Nominierung nächsten Sommer annehmen? Man stelle sich vor: ein Michael-Bloomberg-David-Petraeus-Team (der derzeitige New Yorker Bürgermeister und der General und designierte CIA-Chef, Anm.), All-American, überparteilich und nominiert mit den Stimmen von Millionen Wählern auf einer On-line-Konferenz.

Viel mehr noch als die laufenden Ereignisse in Kalifornien ist dies offensichtlich ein riesiges Experiment. Es könnte ebenfalls dem Gesetz der unbeabsichtigten Folgen gehorchen und entsprechende Konsequenzen zeitigen. (Einige Demokraten fürchten zum Beispiel, dass es Obama mehr Stimmen wegnimmt als den Republikanern.) Doch in einem gewissen Sinn geht es nicht darum. Es geht vielmehr darum, dass ich hier in Amerika, viel häufiger als in Europa, Leute treffe, die den Willen, den Patriotismus, den Glauben an sich selbst, die Erfindungsgabe und die Energie haben zu sagen: Hier muss erneuert werden. Dieses System ist reformierbar. So geht's. Und das ist eine Ressource, die wertvoller ist als Öl, Gas oder Gold. (Timothy Garton Ash, DER STANDARD Print-Ausgabe, 5.8.2011)