Schön, dass es mal wer ausgesprochen hat: Die US-amerikanischen Republikaner, empörte sich ein US-amerikanischer Kommentator angesichts des US-amerikanischen Theaters um die Anhebung der Schuldengrenze, seien "Rechtsradikale".

Die amerikanische Rechte ist libertär

Da hat er freilich recht; und obwohl man es gewusst hat, war man doch erschrocken, weil man sich gleichfalls angewöhnt hatte, die Grand Old Party (das müssen Politfeuilletonisten mindestens einmal ausschreiben, um für umfassend informiert gehalten werden zu können) und die ihr angeschlossene Tee-Abteilung für einen Haufen durchgedrehter Spinner zu halten, deren Exaltiertheit so amerikanisch ist, dass man sie zwar für rechts halten muss, aber nicht mit demselben Etikett belegen darf, das man in Deutschland und Europa für die mehr oder minder straff organisierten, sich mehr oder minder auf Hitler berufenden, mehr oder minder autoritären Vereine verwendet. Denn autoritär sind Amerikas Rechte nicht, im Gegenteil: Wo die ungarischen Neofaschisten gerade Staat und Partei in größtmögliche Kongruenz bringen, sind amerikanische Rechte libertär, es kann ihnen gar nicht staatsfern genug sein.

Trotzdem ist es plausibel, sie als Rechtsradikale zu bezeichnen, wenn man die Klassensituation betrachtet (mit der man zwar nicht alles, aber doch erstaunlich viel erklären kann). Im europäischen wie im amerikanischen Fall sind die neurechten Hysterien Ausdruck sich stetig verschärfender Klassengegensätze: In Ungarn hat die kapitalistische Aufholjagd der vergangenen zwanzig Jahre ein Heer von Verlierern hinterlassen, das sich nur zu gern am national-klerikalen, autoritär-chauvinistischen Feuer wärmt, das die Fidesz-Partei angezündet hat.

In den USA lassen sich angesichts hoher Arbeitslosigkeit, eines gigantischen Schuldenbergs und der Tatsache, dass man langsam aber sicher von den Chinesen abgehängt wird, die Ängste der (weißen) Unter- und Mittelschichten in Ressentiments gegen die Schwachen ummünzen, die, hier fahren die Züge wieder parallel, das wahre, freie Amerika kaputtmachen, das Transferleistungen nicht kennt und in dem wer nicht arbeitet auch nicht zu essen braucht. Auf die Auftritte der Tea-Party-Aktivisten reagiert der europäische Beobachter deshalb so indigniert, weil Europäern die explizite Nichtbezugnahme auf den Staat so fremd ist; selbst wo FDP und CDU weniger Staat und mehr Markt fordern, ändert das nichts am Glauben an den hegelianischen Staat als höchste Verkörperung der sittlichen Idee. Amerikanische Rechte sind bloß konsequente Liberale, die sich das wünschen, was Ferdinand Lassalle den „Nachtwächterstaat" genannt hat: einen Staat, der das Eigentum und die persönliche Freiheit schützt und sich aus allem Übrigen heraushält. Diese urliberale Haltung ist eine rechte, weil der Staat nicht als Promotor dessen, was Sozialdemokraten „sozialen Ausgleich" nennen, gewünscht wird, sondern als sturer Bewahrer des Status quo.

Die US-Verhältnisse bilden das ab, was wir Demokratie nennen

Die deutsche FDP, auch ohne den Brüllaffen Westerwelle, ist mit ihrer Verachtung fürs Soziale da schon ziemlich nahe dran; und wie immer sich die Ausformungen auch unterscheiden mögen: Politik, die für die Besitzenden/Herrschenden gemacht wird, ist rechte Politik. Wenn in Europa der Klassenkampf, unutilitaristisch, unter Verweis aufs Gemeinwohl sediert wird und selbst in Wahlkämpfen nicht mehr recht stattfindet (obwohl er freilich weitergeht), mag das, wo das Gemeinwohl (noch) kein völkisches ist, zivilisierter sein; ehrlicher ist es nicht. Und so kindisch und in wachsendem Maße „polarisiert" (Timothy Garton Ash) die US-Verhältnisse sein und uns wie eine Karikatur von bürgerlicher Demokratie vorkommen mögen: sie bilden, in a nutshell, bloß ab, was das, was wir Demokratie nennen, letztlich ist: die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit, unter Vorspiegelung des Gegenteils. (derStandard.at, 5.8.2011)