Der Kommentar von Eugen Sorg "Lust am Bösen und die Irrtümer des "Therapeutismus" behandelt eine Frage, mit deren Beantwortung die Menschheit seit Jahrtausenden ringt: Warum ist der Mensch als vernunftbegabtes Wesen zu so unvorstellbaren Grausamkeiten fähig und warum ereignen sich diese Taten oft aus nichtigen oder zuweilen auch ohne erkennbaren Anlass?
Sorg kommt zu dem Ergebnis, dass "das Böse" letztlich unerklärbar bleibt. Dies hätten alle anderen Kulturen erkannt, nur die moderen westlichen Staaten sieht das "Böse als eine Reaktion auf erlittenes Unrecht ..., quasi als fehlgeleite Gutes". Sorg erkennt darin eine Fehleinschätzung: "Das uthopische Menschenbild des Therapeutismus verhindert bis heute eine realistische Einschätzung gewalttätiger. ... Das Böse begleitet die Humangeschichte. Es ist nicht heilbar, nicht umerziehbar, nicht wegfinanzierbar". Diese These wird durch ein "worst of" scheinbar unerklärlicher Gewalt, von Kriegsgreultaten (deren der Autor als Krigsberichtserstatter zweifellos unzähliger angesichtig wurde) über den norwegischen Attentäter Anders B. bis zu aktuellen Beispielen von Jugendgewalt untermauert.
Genauere Auseinandersetzung lohnenswert
Die Lektüre dieses Kommentars lies mich zunächst verwirrt und dann verärgert zurück, und eine genauere Auseinandersetzung mit Sorgs Argumentation erscheint lohnenswert, da der Text dem Leser eine Frage aufdrängt, deren Beantwortung ein beträchtliches gesellschaftliches Konfliktpotenzial in sich birgt: Wie soll der Einzelne, wie soll die Gesellschaft mit Gewalt und gewalttätigen Menschen umgehen?
Zunächst ist zu sagen, dass Sorg in seinem Essay mehrere Dinge miteinander vermischt, die getrennt werden müssen, um dem Thema gerecht zu werden: Das "Böse" erklären können heißt nicht, es zu verstehen. Etwas verstehen heißt nicht, es verhindern können.
Anders als Sorg meint, können die modernen psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeutischen Konzepte, ebenso wie die neuere Hirnforschung, sehr gut erklären, welche Entwicklungsschritte gemeistert werden müssen, damit sich ein Säugling zu einen psychisch gesunden Erwachsenen entwickeln kann. Ebenso ist gut erforscht, welche Faktoren diese Entwicklung gefährden und welche Stressoren (pathologische Beziehungserfahrungen, Verwahrlosung, Gewalterfahrungen, etc.) dazu führen können, dass Gewalt zu einer subjektiv legitimen Strategie zur Befriedigung eigener Bedürfnisse werden kann.
Darüber hinaus gibt es detailliert beschriebene psychiatrische Krankheitsbilder, bei denen es aufgrund von Hirnschädigungen zu enthemmtem Verhalten kommen kann. Das sogenannte Böse muss dabei nicht bemüht werden - aggressive Verhaltensweisen sind schlicht und einfach beschreib- und erklärbar!
Prävention im Fokus
Dies bedeutet nicht, dass sie deswegen verständlich sind. Auch wenn Anders B. aus einer inhärenten "Logik" aus gehandelt hat, so werden die meisten Menschen diese Logik niemals begreifen können. Die Handlung eines Menschen begreifen können setzt nämlich voraus, sich in ihn hineinversetzen zu können. Dies ist zumindest mir unmöglich. Das kann auch nicht überraschen, da auf einen Menschen, der zu einer solchen Tat fähig ist, die Kategorien "normalen" Denkens und Fühlens nicht anwendbar sind. Darin liegt für mich ein Trugschluss in Sorgs Argumentation: Weil diese Taten dem Betrachter nicht begreifbar sind, müssen sie als Resultat des (als personifiziert gedachten) Bösen gesehen werden, das sich unvermeidlich und schicksalshaft Bahn bricht.
Daher auch Sorgs Ressentiment gegen den "Therapismus", wobei er grundlegend verkennt, worin die dringendste Aufgabe der psychosozialen Berufe im Umgang mit Gewalt liegt. Aus meiner Sicht ist dies nicht die Therapie (so wichtig diese auch ist), sondern die Prävention. Tatsächlich sind für erfahrene BehandlerInnen im Kinder- und Jugendbereich oft sehr klare Entwicklungstendenzen bereits im Kindesalter erkennbar die, sofern nicht rechtzeitig therapeutisch interveniert wird, sich am Ende der Adoleszenz zu einer problematischen Persönlichkeitsstruktur verfestigen. Hier ist der Staat gefordert, in diesem Bereich ausreichend Mittel bereit zu stellen, um mehr therapeutische Ressourcen dort einzusetzten, wo sie am meisten Wirkung zeigen.
Der Mensch als intelligentes Tier?
Was an Sorgs Text aber am meisten irritiert ist das archaische Menschenbild, welches unterschwellig zugrunde gelegt wird: Der Mensch als intelligentes Tier, bei dem ständig zu befürchten ist, dass sich animalische Impulse, die sich jeder Kontrolle entziehen, ihren destruktiven Weg bahnen. Dieses Menschenbild widerstrebt mir nicht nur, es steht auch dem Stand der Wissenschaft entgegen und ist mit meiner eigenen beruflichen Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht vereinbar.
Zweifellos gibt es kein Allheilmittel gegen Gewaltakte, wie Sorg sie beschrieben hat. Die Gefahr, dass Terroristen, Sexualstraftäter oder anderer Gewalttäter unentdeckt bleiben und unvorstellbares Leid verursachen, wird in einer freien Gesellschaft (ebensowenig wie in einem Polizei- und Überwachungsstaat) auch durch die beste Diagnostik, Förderung, und Therapie niemals gänzlich zu bannen sein.
In den letzten 60 Jahren wurden jedoch viele Erklärungsmodelle, Therapien und Präventionsangebote entwickelt und evaluiert, die wirksam zur Verhinderung und Verringerung von Gewalt beitragen können. Ich denke, wir sollten dieses Wissen zur Anwendung bringen. Wenn diese Erkenntnisse in der Gestaltung aller öffentlichen Bereiche (z.B. Schule) ihren Niederschlag finden, wird sich nicht nur die Gewalt in der Gesellschaft verringern, sondern auch die Lebensqualität aller Menschen verbessern.
Dies erscheint mir wesentlich sinnvoller, als einem Kaninchen gleich zitternd die Schlange des Bösen anzustarren und darauf zu warten, wann sie das nächste Mal zuschlägt. (Leser-Kommentar, Klaus Wutscher, derStandard.at, 5.8.2011)