Wer sind die Menschen, die ich im Zug von Wien nach Budapest treffen werde?

Foto: Eva Zelechowski

Die Ungarin war mit ihrer 8- und 9-jährigen Tochter für zwei Wochen bei ihrem Mann in Deutschland.

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Die pensionierte Floristin auf dem Weg zu ihrer 92-jährigen Mutter.

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Kinderkino gegen Langeweile im Zug.

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Béla ist seit Kurzem Zug-Steward: "Man trifft immer interessante und lustige Leute"

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Ich steige im 130 Kilometer von Budapest entfernten Györ aus und nehme den Zug retour.

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Gábor ist 23 Jahre jung und pendelt zwei Mal wöchentlich zu seiner Freundin nach Ungarn.

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Manchmal bekommt man im Zug auch etwas geschenkt.

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Am Bahnhof von Wien Meidling herrscht reges Treiben. Es ist Dienstag, kurz vor Mittag, und die Reisenden hetzen entweder zum Ticket-Schalter oder warten in der Bahnhofshalle auf ihre nächste Verbindung. Wer sind eigentlich die Menschen, die regelmäßig mit dem Zug fahren? Was sind ihre Geschichten und mit welchem Grund im Gepäck fahren sie von A nach B? Um das herauszufinden, steige ich in einen Railjet, der von München über Wien nach Budapest fährt.

Ausweiskontrollen

Für einen Wochentag sind sowohl der Bahnsteig als auch die Abteile überraschend voll, aber es ist ja Urlaubssaison. Vor mir steht eine Gruppe Polizisten, drei Wiener und drei ungarische Beamte mit der Aufschrift "Rendőrség" auf der Uniform. Im Zug führen sie "stichprobenartige Ausweiskontrollen" durch. Für mehr Details müsse ich mich "an das Innenministerium wenden".

Auf Europa-Tour

Auf dem Bahnsteig sehe ich staubige Converse, voll bepackte Rucksäcke samt Schlafsack und Rock-T-Shirts, deren TrägerInnen zum Teil in Campingsesseln sitzen. Müde Kinder, die von jungen Frauen aus Regionalzügen getragen werden und ratlose Blicke bei einigen Ankommenden. Hören kann ich zahlreiche US-Amerikaner. Der erste Gedanke: eine Europa-Tour. Ich unterhalte mich mit fünf jungen Amerikanern. Die Studenten haben drei Monate an der Universität im ungarischen Debrecen verbracht. Bevor sie wieder nachhause fliegen, nutzen sie ihre verbleibenden Wochen, um sich einige europäische Städte anzuschauen.

"Super zusammengewürfelte Gruppe"

Es ist 12:09, als mein Zug einfährt. In einem Abteil sitzt zwischen den vielen jugendlichen Rucksackreisenden ein Mann vor seinem Laptop, er macht einen entspannten Eindruck. Der 36-Jährige Professor für Mathematik arbeitet an der TU Graz und fährt alle zwei Jahre im Rahmen eines Projekts nach Debrecen. "Meistens arbeite ich, die Zeit dafür ist im Zug gegeben. Man hat weniger Stress als im Auto, aber die acht Stunden Zugfahrt sind schon das Limit. Bei längeren Strecken würde ich schon fliegen", sagt der junge Mann. Meistens bliebe man für sich allein, aber er erinnert sich: "Ich weiß noch: Einmal bin ich in einem Sechserabteil mit fünf Leuten gefahren, von denen jeder eine tolle Geschichte hatte. Am Ende der Fahrt wusste man von jedem einzelnen, was der so im Leben macht, das war einfach eine super zusammengewürfelte Gruppe." Was Wien und Budapest gemeinsam haben? Die Geschichte zum Beispiel, sagt er.

Keinen Arbeitsplatz in Debrecen gefunden

Der Railjet hat inzwischen die österreichisch-ungarische Grenze zwischen Nickelsdorf und Hegyeshalom erreicht. Eine junge Frau reicht ihren zwei Töchtern eine Banane über den Gang. Vor den Mädchen ist ein Netbook aufgeklappt, der sie mit einem Barbie-Comicfilm beschäftigt. Seit Mai lebt und arbeitet ihr Mann, so erzählt die 47-Jährige, im deutschen Ulm. Die Ungarin erklärt auf Englisch, dass es für den Ingenieur schwierig war, in ihrer Heimatstadt Debrecen einen Job zu finden. "Jetzt ist er auf unbestimmte Zeit in Deutschland. Wir haben ihn das erste Mal besucht, er wird in Zukunft einmal im Monat nachhause kommen," sagt sie. Die zweifache Mutter arbeitet an der Universität in Debrecen als Sekretärin. Der Job mache ihr Spaß, sei aber schlecht bezahlt. "Mit dem Zug fahre ich nicht so gerne, sondern lieber mit dem Auto, aber das hat jetzt mein Mann. Dafür gefällt es den Kindern", lächelt sie. In dem Moment lugt eines der Mädchen neugierig um die Ecke. Eine ältere Frau bleibt im Vorbeigehen stehen, beugt sich zu den Mädchen hinunter und sagt ein paar Sätze auf Ungarisch. "Wie brav sie doch wären", übersetzt die junge Mutter.

"Wien ist sauberer"

Ein paar Sitzreihen weiter versucht sich der Zug-Steward samt Wagerl an mir vorbeizudrängen. Ich nutze den Moment und lasse mich auf den Sitz neben eine ältere Dame fallen. Die 68-Jährige spricht zu meiner Freude fließend Deutsch und erzählt, dass sie seit etwa 35 Jahren in München lebt. "München ist eine wunderschöne Stadt", schwärmt sie. In Wien sei sie mit ihrem Mann - sie reisen in der Pension für ihr Leben gern - auch schon gewesen. Gemeinsamkeiten zwischen der ungarischen Hauptstadt und Wien findet die gebürtige Budapesterin sofort: "Beides sind wunderschöne Städte und die Donau verbindet sie, aber Wien ist um einiges sauberer", schmunzelt die pensionierte Floristin. Warum sie nach Budapest fährt, möchte ich wissen. "Meine Mutti besuchen. Sie ist 92 Jahre alt und krank. Sonst sind wir immer mit dem Auto gefahren, aber es musste jetzt schnell gehen. Ich möchte sie noch einmal sehen", sagt sie.

"Immer irgendwas los im Zug"

Als ich wieder auf den Steward treffe, wechselt er gerade die DVD im Kinderkino aus. Das Fach dafür befindet sich unter den Treppen, auf denen die Kleinen sitzen und Comicfilme schauen, damit lange Reisen unterhaltsamer werden. Anscheinend entwickeln die Menschen die Vorliebe, aus dem Zugfenster zu sehen und die Landschaft an sich vorbeiziehen zu lassen, erst später im Alter.

Der 26-jährige Steward heißt Béla und ist erst seit einigen Monaten Crew-Mitglied. Vom Bürojob, den er davor hatte, wollte er weg. "Es ist immer irgendwas los im Zug. Man trifft immer interessante und lustige Leute, das gefällt mir." Negativseiten am fahrenden Arbeitsplatz sieht er noch nicht. Mit dem Wagen sei es manchmal schwierig durch den Gang zu kommen. Er wiegt etwa 120 Kilogramm, befüllt noch mehr, fügt er noch hinzu.

Ein bisserl Nostalgie

Bis nach Budapest komme ich nicht. Ich steige im 130 Kilometer entfernten Györ aus und nehme den Zug retour. Die Zeit reicht für eine Zigarettenlänge und ein Milcheis, das mich stark an das 80-Jahre Käse-Vanillepudding-Eis Tschisi erinnert. Der Zug ist relativ leer und ich fühle mich in eine heimische Schnellbahn versetzt, als wäre ich von Floridsdorf nach Gänserndorf unterwegs. Die Reisenden sind hauptsächlich Radfahrer.

Zwischen zwei "Lieben" pendeln

Aus dem Fenster sehe ich ein junges Paar, das sich innig verabschiedet. Zehn Minuten später ist Abfahrt und Gábor sitzt mir gegenüber. Den 23-jährigen Barkeeper hat es vor einigen Monaten nach Wien gezogen. An zwei Tagen in der Woche besucht er seine Freundin, die er in Györ "zurückgelassen" hat. Im Zug nutzt er meistens Multimedia, um sich die Zeit zu vertreiben: Den Laptop zum Musikhören oder Filmschauen, sein Smartphone zum Telefonieren und Websurfen. "Ein Auto brauche ich - vor allem in Wien - nicht. Die Zugstrecke kostet nur 19 Euro. Ich liebe Wien, die Atmosphäre, die Menschen. Ich habe für meine Ex-Freundin, die in Wien gelebt hat, Deutsch gelernt. Mit der Freundin ist es längst vorbei, aber in Wien habe ich mich verliebt."

Die Riesengurken-Ausbeute

Im burgenländischen Nickelsdorf steigt ein braungebrannter Mann ein. Auf dem Kopf trägt er ein weißes Kapperl mit der Aufschrift Suisse, einen schwarzen Hartschalenkoffer in der einen und ein zerfetztes Stoffsackerl in der anderen Hand. Nach zwei Minuten höre ich einen Zischlaut und er führt eine Egger-Bierdose an den Mund. Im Dreier-Sitzeck neben ihm hat es sich ein junges Pärchen in Joggingoutfit und Tätowierungen gemütlich gemacht. Sie wechseln kein Wort miteinander. Nach einer kurzen Weile beugt sich der Suisse-Kapperl-Mann vor und bietet dem Paar - in einem für mich nicht zu identifizierenden Akzent - eine Gurke aus dem Stoffsackerl an. Die junge Frau lächelt nur, sie versteht scheinbar kein Deutsch - oder zumindest nicht dieses. Ich frage neugierig, ob er seine Gurken (sie sehen eher aus wie überdimensionale Zucchini) verschenkt. "Ja, die müssen weg, ist eine enorme Schlepperei", sagt er lachend. Er erntet das Gemüse im Garten der Eltern: "Die Eltern san schon längst dahin, aber ich fahr immer am Wochenende in den Garten", meint er und ist prompt vier Gurken an mich und das ungarische Paar losgeworden.

Die Zugfahrt ist nicht nur aufgrund des Fensterausblicks ein Erlebnis. Auch die Menschen, die mitfahren, sind eines. Man muss sie nur ansprechen. (Eva Zelechowski, daStandard.at, 05. August 2011)