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Kritiker werfen Chiles Präsident Sebastián Piñera vor, abgehoben zu sein und zu wenig Volksnähe zu zeigen.

Foto: dapd / Roberto Candía

Er ist heute mit den größten Protesten seit der Diktatur konfrontiert. Kritiker meinen, die Stimmung im Land stehe auf der Kippe.

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Santiago de Chile / Puebla - Vor einem Jahr erlebte Sebastián Piñera seine Sternstunde: Persönlich begrüßte Chiles Staatschef die 33 wochenlang verschütteten Bergleute bei ihrer Befreiung. Seine Popularität lag bei 63 Prozent. Doch seit Anfang des Jahres schlittert der rechte Multimillionär von einer Krise in die nächste. Piñeras Popularität liegt derzeit bei nur 26 Prozent.

Chile sei nur einen Schritt von der Unregierbarkeit entfernt, meint sein Gegenspieler, der christdemokratische Ex-Präsident Eduardo Frei. Die über Jahre verschleppten Reformen und aufgestauten Strukturprobleme scheinen nun plötzlich aufzubrechen - und das paradoxerweise bei einem Wirtschaftswachstum von sechs Prozent.

Der schleppende Wiederaufbau nach dem Erdbeben vor einem Jahr brachte zu Jahresanfang die ersten Negativschlagzeilen. Es folgten Proteste gegen AKW-Pläne und Wasserkraftwerke in Patagonien, dann sorgte ein Korruptionsskandal für Aufregung. Anschließend demonstrierten die Beschäftigten der Kupfermine Codelco gegen die Privatisierung. Und seit Juli demonstrieren zehntausende Schüler und Studenten für Chancengleichheit bei der Bildung.

Piñera reagierte mit einem 21-Punkte-Reformplan, der nach Auffassung der Demonstranten aber weiterhin den Schwerpunkt auf privates Gewinnstreben legt - etwas, was 80 Prozent der Chilenen Umfragen zufolge ablehnen. Die Studenten wollen mitreden bei der Neugestaltung des Bildungssektors; der Präsident des Lehrerverbandes schlug gar eine Volksabstimmung vor.

Die Regierung reagierte mit einem Demonstrationsverbot und Repressionen: Über 800 Demonstranten wurden Ende voriger Woche festgenommen, das chilenische Fernsehen übertrug, wie Kinder und Jugendliche vor Wasserwerfern und Tränengasbomben wegrannten und von bewaffneten Polizisten niedergerungen wurden. Bilder, die Erinnerungen an die Militärdiktatur weckten und eine Welle der Solidarität auslösten. Die Bevölkerung machte ihrem Unmut mit ohrenbetäubendem Kochtopfdeckelschlagen Luft - wie einst gegen Diktator Augusto Pinochet. Für Dienstag haben Lehrer, Dozenten, Rektoren, Schüler und Studenten zu einem Ausstand aufgerufen.

Die Jugendlichen fordern dasselbe, was sie vor Jahren schon von Piñeras Vorgängerin Michelle Bachelet verlangten: ein stärkeres Engagement des Staates in der Bildung und das Ende eines Modells, in dem Gewinnmaximierung im Vordergrund steht. In Chile ist die Bildung größtenteils privatisiert, finanziell äußerst kostspielig und damit ein Privileg der Geld-Elite.

Enttäuschte Chilenen

Der Streit um die Bildung weist auch auf ein tieferliegendes Unbehagen der Bevölkerung mit einem Wirtschaftsmodell hin, das das soziale Netz durchlöchert und den Graben zwischen Arm und Reich vertieft. Ein Unbehagen, das sich ähnlich wie in den arabischen Ländern spontan äußert und nicht von Parteien vereinnahmen lässt.

Die Chilenen sind enttäuscht von der Demokratie, die sich nicht um ihre Anliegen kümmere, sagte Frei der Zeitung La Nación. Harsch kritisierte er Piñera. Er laviere zwischen den Fronten, ändere ständig seine Meinung und sei nicht in der Lage, der Bevölkerung Empathie zu vermitteln.

Der Präsident sei in seinem Managerdenken verhaftet und überzeugt, dass es dem Land gutgehe, wenn die Wirtschaft floriere, so der Journalist Hector Soto. "Aber die Chilenen sind nicht zufrieden. Im Gegenteil. Zum ersten Mal steht der Konsens über das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell auf der Kippe." Und der konservative Politologe Patricio Navia rechnet daher mit einem populistischen Linksruck. (Sandra Weiss/DER STANDARD, Printausgabe, 8.8.2011)