Im Film "Low Life" von Elisabeth Perceval und Nicolas Klotz stößt die Liebe einer französischen Studentin zu einem Asylwerber aus Afghanistan an politische Grenzen.

Foto: Filmfestival Locarno

Ein Zwischenbericht.

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Zur Festivalhalbzeit hat Locarno die ersten Invasionen gut überstanden: Mit Getöse präsentierten sich beispielsweise Cowboys & Aliens - nach der Eröffnung mit Super 8 ein weiterer US-Sommer-Blockbuster, der auch in die europäischen Kinos kommt. Das Riesenfreiluftareal der Piazza Grande gehört wohl endgültig solchen Events, die inkludieren, dass Harrison Ford einen Preis für sein Lebenswerk erhält und gemeinsam mit den Filmpartnern Daniel Craig und Olivia Wilde ein paar Worte ans Publikum richtet.

Die Parallelwelt des übrigen Festivals und des Wettbewerbs präsentiert sich hingegen in der zweiten Ausgabe, die Olivier Père als künstlerischer Leiter verantwortet, profiliert und konzentriert. Auch wenn man im Einzelfall manches einwenden mag, gemeinsam ist vielen Arbeiten eine ausgeprägte Entschiedenheit in der Wahl ihrer Mittel und Sujets:

Elisabeth Perceval und Nicolas Klotz etwa stellten Low Life vor. Es geht um die prekäre Liebe zwischen einer französischen Studentin und einem Asylwerber aus Afghanistan, dem Abschiebung droht. Das könnte man sich als emotionsgeladenes Drama mit besten Absichten und schlimmsten erzählerischen und ästhetischen Allgemeinplätzen vorstellen. Das Filmemacher- und Autorenduo (La question humaine, 2007) macht daraus lieber einen zugleich artifiziellen und sehr gegenwärtigen Film, der seine Sätze mitunter bei Artaud, Jean-Luc Nancy, Hölderlin oder - gleich zu Beginn - aus Heiner Müllers Hamletmaschine "stiehlt".

Junge kunstsinnige und politisch engagierte Menschen streunen da durch eine nächtliche Stadt. Die Nachricht, dass eine Razzia in einem Asylantenquartier droht, versetzt sie in schnelle Bewegung. Es kommt zu teils gewalttätigen Konfrontationen mit der Polizei und zur ersten Begegnung zwischen Carmen und Hussain. Die Filmemacher halten diese Vorkommnisse jedoch relativ abstrakt, verdichtet zu zeichenhaften Bildern: schnelles Rennen durch Passagen, Frontstellung in engen Gassen, Molotowcocktails, eine Gruppe versteckter Kinder, schweigend vorgenommene Handgriffe. Sie erzielen damit, ähnlich wie Philippe Garrel in seiner Post-1968-Elegie Les amants réguliers und trotz gelegentlicher sprachlicher und schauspielerischer Übersteuerungen, eine eindringliche Wirkung. Schönere Politisierte hat man seit den jungen Heldinnen und Helden der Nouvelle Vague nicht mehr gesehen.

Mandrin ist ebenfalls ein Outlaw. Les Chants de Mandrin von Rabah Ameur-Zaimeche, ein weiterer französischer Wettbewerbskandidat, setzt nach seiner Hinrichtung Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein. Nicht nur die hinterbliebenen Schmugglerkameraden, auch ein freigeistiger Marquis - den Jacques Nolot nonchalant verkörpert - wollen das Andenken Mandrins hochhalten. Neben den Lebensmitteln und Waffen, den Schriften von Voltaire, Rousseau und den Märchen aus Tausendundeine Nacht, die sie bei ihren freien Märkten unters Volk bringen, sollen auch die Gesänge des furchtlosen Mandrin zu erwerben sein (der kinoaffine Philosoph Jean-Luc Nancy ist übrigens auch in diesem Film vertreten, er spielt den Verleger, der die praktische Seite des Vorhabens besorgt).

Les Chants de Mandrin ist ein ernsthafter, "armer" Kostümfilm. Beispielsweise gibt es kaum Musik, und wenn, dann wird sie live und mit erstaunlichen Effekten mit Drehleier und Trommel produziert. Aber der Film erlaubt sich auch kleine, verschmitzte Ausritte - nicht zuletzt zu Pferde, wo die Männer im Gegenlicht kurz zu Westernhelden werden. Oder wenn die Gesetzlosen sich, in Zeiten der Halsabschneider, zu den eigentlich Tugendhaften erklären: Die unverblümten Zugriffe der Schmuggler können manchmal die allerrichtigsten sein. (Isabella Reicher, DER STANDARD - Printausgabe, 9. August 2011)