Der New Yorker Trajal Harrell belebt Voguing wieder.

Foto: AntoineTempé

Wien - Eigentlich haben wir in Europa gerade Probleme, die nur schwer mit solchen künstlerischen Spezialfragen kompatibel sind: Was wäre passiert, wenn sich 1963 im Big Apple die Voguing-Szene aus Harlem mit den postmodernen US-Avantgardisten des Judson Dance Theatre zusammengetan hätte? Aber just darüber macht sich der New Yorker Choreograf Trajal Harrell in seiner Performance-Reihe Twenty Looks or Paris Is Burning at the Judson Church, die derzeit bei Impulstanz zu sehen ist, ernsthaft Gedanken.

Oder ist es genau umgekehrt? Dass uns nämlich gerade solche Thematisierungen auf die tieferen Ursachen der Stürme, die uns gerade umtosen, stoßen können? So hatte zum Beispiel vor kurzem im Festival die japanische Butôtanzgröße Kô Murobushi den Blues: In seinem im Odeon uraufgeführten neuen Stück Mu(s) - Krypt Blues umtanzt er den Zen-Begriff des (Mu: das Nichts, die Leere), und der passt wieder hervorragend zu dem, wovor sich alle fürchten, wenn die Börsenkurse weiter sozusagen in Richtung Krypta (Grab- und Altarraum unter Kirchen) fallen.

Tanz der Finsternis

Der - auch wenn es oft nicht so aussieht - reichlich anarchistisch angelegte Butôtanz (auch: "Tanz der Finsternis" ) kann richtig ironisch werden. Also sucht Murobushi hier singend und in hochangespannter Bewegung zu toller Noise-Musik nach der Mehrzahlform der Leere. Und er tritt in diesem Stück mit der wunderbaren Sängerin und Tänzerin Dorothée Munyaneza auf, einer Afroeuropäerin, die etwa 2004 den Soundtrack für den Film Hotel Rwanda gesungen hat.

Das verbindet Murobushis Arbeit mit jener des US-Amerikaners Harrell. Dieser tritt in einem Teil seiner Reihe Twenty Looks ..., Untertitel (M)imosa, gemeinsam mit der kapverdischen Tänzerin Marlene Freitas, der Argentinierin Cecilia Bengolea und dem Franzosen François Chaignaud auf. Ein schillerndes, lautes und buntes Quartett, das den Tanzstil des Voguing neu anpackt.

Voguing ist eine Form der sozialen Performance, die sich Anfang der 1960er-Jahre in Tanzwettbewerben dort Ausdruck verschaffte, wo die sozialen Probleme der USA besonders virulent waren. Inmitten all der Armut, Homophobie und Rassendiskriminierung machten sich "Outcasts" verschiedener Provenienz im New Yorker Stadtteil Harlem einen Spaß daraus, im Stil der Models der Zeitschrift Vogue in Ballrooms aufzutreten und ihr Anderssein selbstbewusst vorzuführen. Keine Geringeren als Malcolm McLaren und Madonna machten das Voguing Ende der Achtzigerjahre international populär.

Harrells (M)imosa ist weder der darinliegende beinharte Diskriminierungsdiskurs gleich anzusehen noch die Konfrontation mit den postmodernen Avantgardisten, ohne deren aus dem Neodada kommende Impulse das Stück allerdings gar nicht möglich wäre. Kurz: Würde man das alte Zürcher Cabaret Voltaire, die Geburtsstätte des Dadaismus, neu starten - (M)imosa wäre ein perfekter Programmkandidat. Die Tänzer kommen in fantastischen Kostümen auf die Bühne, Freitas unter anderem als Transgender-Prince, Bengloea als Kate Bush und Chaignaud als Operndiva und schrecklicher Ballerino.

Wie bei Murobushi geht es hier um einen Aufstand gegen jene Feiglinge und Knicker, deren Ängste in Aggressionen gegen alles, was irgendwie "anders" ist, umschlagen. Munyaneza und der Butôtänzer liefern in Erscheinung und Stimme ein Echo der Krise und eine Selbstverständlichkeit in der Arbeit über kulturelle Grenzen hinweg ab. Harrell und die Seinen ätzen noch dazu gegen den Scheinliberalismus ihres aufgeklärten Publikums. Denn wer diesen Sommer urlaubend im Mittelmeer plätschert, badet im nassen Grab afrikanischer Flüchtlinge, die die Überfahrt nach Europa nicht geschafft haben. Ein "Krypt Blues" ist da durchaus angemessen. (Helmut Ploebst, DER STANDARD - Printausgabe, 9. August 2011)