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Demonstrativ praktizierte Toleranz heute: Hohe Vertreter christlicher Kirchen und der jüdischen Gemeinde in der Türkei bei einer Vorführung von Derwischen in Istanbul anlässlich des Ramadan-Beginns ...

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... Izmits Bürgermeister Nevzat Dogan (2. v. re. hinter dem Transparent) und Carnuntum-Theaterdirektor Piero Bordin (Mi.) beim „Pişmaniye- und Toleranzfestival".

Foto: Barbara Pálffy

Tausend Jahre sind kein Pappenstiel, aber aus der Distanz betrachtet, aus der sicheren Entfernung von noch ein paar Jahrhunderten mehr, ist es schon egal. Da sind Süßspeise und religiöse Toleranz ein Brei, und der wird in Izmit geknetet.

„Pişmaniye! Fragt ihn nach Pişmaniye!", zischt die Dame von der Presseabteilung. Nevzat Dogan fährt sich mit beiden Händen schnell über den Kopf, um sicher zu sein, dass die Haare auch wirklich eng anliegen. Dann legt der Bürgermeister wieder los und erklärt seinen Reportern das „Pişmaniye-Festival": Drei Tage lang für das Publikum türkische Zuckerwatte auf der Straße kneten und zu kleinen weißen Bällchen formen, was sonst alles längst Maschinen erledigen. Izmit, die Stadt am Ende des Marmarameers, eine Autostunde weit von Istanbul, ist die Hauptzentrale dieser ungeheuerlich süßen Butter-Zucker-Mixtur.
Um 1430 notierte ein Arzt erstmals das Pişmaniye-Rezept - heute eher ein Horror für Ernährungswissenschafter. Ein Zeitalter davor, um 311 n. Chr., wurde in Izmit ein Toleranzedikt für die Christen erlassen, das Ende der Christenverfolgung im Römischen Reich. Genau deshalb macht Bürgermeister Dogan nun ein gemischtes Piºmaniye-Toleranz-Festival.

„Pişmaniye ist süß, und die Toleranz ist es auch", erklärt Dogan, ein erfolgreicher Politiker der konservativ-muslimischen Regierungspartei AKP. Es ist ein großes politisches Wort und das Versprechen einer neuen Tourismusmasche. Nevzat Dogan wird der günstigen Umstände halber deshalb später auch ein neues Edikt erlassen.

Eine Handvoll Christen

Eine Kirche gebe es noch in Izmit, sagt der Bürgermeister, „für unsere christlichen Brüder und Schwestern in der Stadt". Viele sind es nicht mehr, eine Handvoll vielleicht noch. Es ist ja einiges passiert seit dem Toleranzedikt von 311, als Izmit noch Nikomedia hieß, und Konstantinopel, das spätere Istanbul, ein Sumpfgebiet war: der Untergang des Römischen Reichs und dann von Byzanz, der Sieg des Islam, Aufstieg und Fall des Osmanischen Reichs, die kemalistische Republik, ein verheerendes Erdbeben 1999, das Izmit nahezu zerstörte; 18.000 Menschen kamen dabei um. Und wäre Piero Bordin nicht aufgetaucht, der Theaterdirektor von Carnuntum in Niederösterreich, hätte sich vermutlich niemand in Izmit an dieses Edikt erinnert. Dann wäre es bei Pişmaniye geblieben.
Bordin hat ein wenig politische Archäologie betrieben und aufgezeigt, was das heutige Österreich und die heutige Türkei zusammenhält: nichts weniger als die Gründung des Abendlands und das humanistische Weltideal der Toleranz.

Auf der heutigen bordinschen Bühne in Carnuntum trafen sich im November 308 n. Chr. die vier Kaiser, die das damalige Römische Reich regierten. „Tetrarchie" hieß dieses Regierungsmodell der Spätantike, und es war schon so ramponiert durch Bürgerkriege und Selbstproklamation von Soldatenkaisern, dass bei dem Krisentreffen in Carnuntum ein letztes Herrscherquartett für die vier Himmelsrichtungen des Reichs aufgestellt wurde: Galerius, Maximinus, Licinius und Konstantin. Letzterer gewinnt am Ende alles; Konstantin wird 313 alleiniger Kaiser im Römischen Reich. Noch aber hielt die Tetrarchie ein paar Jahre. Galerius setzte sich nach dem Kaisertreffen in Carnuntum aufs Pferd und ritt zurück gen Nikomedia. 311 n. Chr. erlässt er das Edikt, mit dem er die Christenverfolgung im Reich für beendet erklärt. „Es war eine Regierung, die die Welt verändert hat", glaubt Piero Bordin. „Wäre die Tetrarchie in Carnuntum anders ausgefallen, hätte es vielleicht kein Edikt gegeben, wer weiß."

Genau genommen hat Galerius sein Edikt in Serdika, der heutigen bulgarischen Hauptstadt Sofia, erlassen. Im selben Monat, am 30. April 311, wurde es auch in Nikomedia verlesen, wo es der Geschichtsschreiber Laktanz festhielt. Nikomedia war nicht eben ein unschuldiger Ort. Die wichtigste Stadt Kleinasiens war das Zentrum der Christenverfolgung. An grausigen Märtyrerinnengeschichten wie jener der Barbara oder der Juliana ist kein Mangel.

1700 Jahre später schlägt die Stunde des Lokalkaisers Nevzat Dogan. Izmits Bürgermeister krönt sein Piºmaniye- und Toleranzfestival mit einer neuen Proklamation des Edikts. Und derweil kneten die Bäcker auf der Straße Pişmaniye für alle. (Markus Bernath aus Izmit, DER STANDARD, Printausgabe, 9.8.2011)