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Polizisten in Südlondon in der Nacht auf Dienstag, in der in weiteren Städten randaliert wurde.

Foto: EPA/Arrizabalaga

Randalierer versuchen in Birmingham ein Juweliergeschäft zu plündern

Foto: Jones

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Schwerpunkte der nächtlichen Ausschreitungen

Grafik: DER STANDARD, Quelle: APA, BBC

Was den Stimmungsumschwung ausgelöst hat, wer vermag es zu sagen? Vielleicht sind es die im Internet kursierenden Bilder einer schwarzen Bewohnerin des Armen-Viertels von Hackney im Osten Londons. "Hier geht es um einen Toten in Tottenham, nicht um eure Lust an der Zerstörung", ruft die anonyme Frau den Plünderern zu und fuchtelt mit ihrer Krücke. "Wir sollten für eine gemeinsame Sache kämpfen, nicht die Läden leerräumen."

Vielleicht sind die Briten auch angerührt von dem millionenfach angeklickten Filmchen eines verletzten Jugendlichen. Erst helfen die Plünderer dem vielleicht 15-Jährigen auf die Beine, dann räumen sie ihm gnadenlos den Rucksack leer.

Erstes Todesopfer

Oder ist es der gramgebeugte Ladenbesitzer, der in den Trümmern seines Lebensmittelgeschäfts der BBC Auskunft gibt. Ob er bald wieder aufmachen könne? Da schluchzt Shiva Haran und sagt: "Das weiß ich nicht, ich habe doch gar kein Geld." Am Dienstag wurde zudem der erste Tote gemeldet: Ein 26-Jähriger erlag einer Schussverletzung, die er am Montag im Londoner Stadtteil Croydon erlitten hat - durch wen, war zunächst unklar. Ob es ein Einzelschicksal war oder doch die Bilderflut von tobenden Feuern, leergefegten Läden und vermummten Jugendlichen, an diesem Dienstag erfasst Großbritannien das Gefühl: Genug ist genug.

Vielleicht geht der Ruck ja auch durchs Land, als man den Premierminister nicht mehr in italienischen Strandlokalen, sondern im dunklen Anzug vor seinem Büro in der Downing Street sieht. Er verurteile uneingeschränkt die Krawalle der vergangenen drei Tage, sagt David Cameron und verspricht, es werde "alles Nötige" zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung getan: Statt bisher 6000 sollen ab sofort 16. 000 Bobbys in der Hauptstadt Präsenz zeigen.

Nachahmungstäter

Tagelang haben Wohlmeinende die schweren Krawalle heruntergeredet und zu erklären versucht, von Armut und Entfremdung war die Rede, von Sozialkürzungen und Polizeiwillkür. Vieles davon ist noch immer gültig. Doch in der Nacht zum Dienstag haben die ursprünglich im Nord-Londoner Stadtteil Tottenham begonnenen Plünderungen und Brandstiftungen auf ein Dutzend anderer Viertel in der Metropole übergegriffen, haben Nachahmungstäter aktiviert in Birmingham, Bristol, Liverpool und Nottingham, ja selbst im schläfrigen Uni-Städtchen Oxford. Nun werden die Erklärungsversuche überlagert von Schicksalen Betroffener, von Millionen-Schäden, nicht zuletzt von der Angst breiter Bevölkerungsschichten, auch in Tottenham.

Dort, am Ausgangspunkt des Geschehens, versammelten sich Montagabend etwa 200 Bürger zu einer Kundgebung am Hochkreuz auf der High Road, gleich bei zahlreichen geplünderten Läden. Dahinter liegt die Ausfallstraße Ferry Lane, auf der am Donnerstag ein 29-jähriger Mann von der Polizei erschossen wurde. Beim Protestmarsch gegen Mark Duggans gewaltsamen Tod explodierte Samstagabend die Gewalt.

Ein Pfarrer verliest Psalmen, ein Jugendarbeiter berichtet von seiner Arbeit. Jetzt redet David Lammy Klartext. "Schaltet eure Gehirne ein und geht nach Hause", wendet sich der örtliche Unterhaus-Abgeordnete von Tottenham an die jungen Leute in seinem Stadtviertel. "Protestieren ist o. k. Aber Busse anzünden, die Leute zur Arbeit bringen sollen, ist nicht o. k." Der Verkehrslärm übertönt den Appell beinahe, und viele der Zuhörer wollen ihn ohnehin nicht hören. "Lammy ist ein Verräter", schimpft Makola, 29. "Er redet immer nur von zerstörten Wettbüros. Dabei hat die Polizei jemanden getötet, darüber sind wir wütend."

Behörden in Erklärungsnot

Die Behörden haben auch fünf Tage nach dem Zwischenfall keine umfassende Erklärung dafür, wie und warum Duggan zu Tode kam. Fest steht: Duggan starb durch einen Schuss in die Brust, wie der Untersuchungsrichter am Dienstag mitteilte.

Scotland Yard veröffentlicht erste Fotos der zahlreichen Überwachungskameras, die die Ausschreitungen festgehalten haben. Zu sehen sind überwiegend junge Leute, Männer, Frauen, Jugendliche beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher Ethnien. Mehr als 500 Festnahmen verzeichnet die Polizei, über 100 Straftäter sind bereits angeklagt.

Beinahe die Hälfte der Randalierer sind jünger als 20, der jüngste Einbrecher zählt 11 Jahre. "Ich appelliere an alle Eltern, ihre jungen Leute heute Nacht nicht auf die Straße gehen zu lassen", sagt der amtierende Polizeipräsident Tim Godwin und spricht von "robustem Vorgehen". Erstmals spricht Scotland Yard auch über den möglichen Einsatz von Gummigeschossen. Kein Zweifel, die Stimmung in London ist umgeschlagen. (Sebastian Borger aus London, DER STANDARD, Printausgabe, 10.8.2011)