Urlaub ist der Inbegriff von Freizeit und Freiheit. Dennoch entdeckt Massimo Vitali auf seinen jeweils von fünf Meter hohen Podesten fotografierten Ansichten einen gewissen Konformismus.

Foto: Massimo Vitali

Ein sechs Kilogramm schweres Kompendium mit gewaltigen Panoramen heutiger Freizeitgestaltung.

Wien - Der Begriff der Freizeit, schreibt der Soziologe Horst W. Opaschowski, hat sich entscheidend gewandelt. Freizeit dient den Arbeitern nicht mehr zur "Reproduktion der Arbeitskraft" (Karl Marx), sondern sie hat sich mit einem positiven, eigenen Wert aufgeladen. "Freizeit ist eine Zeit, in der man für etwas frei ist", fand Opaschowski heraus.

Der spätmoderne Freizeitler will sich verwirklichen. Am größten, möchte man meinen, ist die Möglichkeit der Selbstverwirklichung in den Ferien. Gerne geht es dann auf die Berge oder an den Strand. Und seit fast zwanzig Jahren steht dort gelegentlich ein fast fünf Meter hohes Podest, von dem herunter ein schwergewichtiger Italiener mit einer Großbildkamera und umwerfender Tiefenschärfe die Urlaubenden fotografiert: Massimo Vitali.

Gewaltige Panoramen der Freizeitgestaltung überblickt Vitali von dort oben; in einem fast sechs Kilogramm schweren Doppelband hat er sie nun versammelt: Landscape with Figures / Natural Habitats. Wuselbilder sind es, in denen die Menschen klein werden und in denen es nur so rauscht vor lauter Strandposen, Entspannungshaltungen und hellen Farben. Die Freude am Strand aber kann nur ein blasser Abklatsch der Fantasie aus dem Reiseprospekt sein: Die bisweilen qualvolle Enge, die Vitali überblickt, die oft zwanghaft anmutende Ähnlichkeit der Personen lässt weder Raum für Entspannung noch für vernünftige körperliche Ertüchtigung.

Vitalis Kompositionen blicken, indem sie Aufsichten produzieren, oft hinter die Horizontlinie der Badegäste. Dort streckt sich gelegentlich noch der lange Arm der industriellen Arbeit. Häufig zitiert Vitalis Bildsprache die Historiengemälde des 17. und 18. Jahrhunderts, allerdings größtenteils als Erinnerung: Vitali möchte ergründen, so sagt er, "was von der Fantasie der idealisierten, arkadischen Landschaft übriggeblieben ist, wie sie sich durch den Gebrauch der Menschen heute verändert hat."

Sehr viel weiter lassen sich die Panoramen ergründen, wenn man zu Vitali die Naturfotografie mitdenkt: Auch hier nisten Schwärme auf den Felsen, verhalten sich Tiere in Rudeln oder Schwärmen zueinander. Da erweist sich Vitali als hintersinniger Anthropologe, der gerade in dem Momenten, da der Mensch nicht den Zwängen der Erwerbsarbeit unterworfen ist, quasi-natürliche Verhaltensweisen destilliert.

In der Anordung der Bildstrecken versteckt Vitalig subtile Erkenntnisse. Dass die Bilder ähnliches Verhalten an ähnlichen Urlaubsorten finden, mag kaum überraschen. Doch auf wenigen Seiten springen wir von Kroatien über die Türkei, die USA und Italien an den Wolfgangsee und sehen immer noch keine Differenzen. Das Subtile an der Anordnung der Bilder sind die Kontinuitäten: Farben, Bildstimmungen, menschliches Verhalten.

"Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus", schrieb Jürgen Habermas in den 1980ern. Der Blick auf unser Urlaubsverhalten attackiert mehrere dieser Utopien zugleich: Vitali zeigt uns, dass wir, einmal in den Urlaub entlassen, gerade dort etwas Kümmerliches haben, wo wir uns ausleben könnten und uns gleichen, wo wir uns frei bewegen könnten. Schließlich rückt uns Vitali arg nah an tierisches Verhalten. Die Wüste des Banalen freilich hat er dadurch zu fantastischen Bildern verdichtet.  (Lennart Laberenz/ DER STANDARD, Printausgabe, 11.8.2011)