Als ein nicht unerheblicher Teil Londons in Flammen aufgegangen ist, gab es im Grundsatz zwei Interpretationen: Tom Buhrow, der in den "Tagesthemen" so aussah, als komme er sich sehr gescheit vor, als er feststellte, er habe auf den Fernsehbildern keine Plakate mit politischen Forderungen wahrgenommen, und eine politische Demonstration sehe doch wohl, bitte schön, anders aus, stand für die erste. Auch die "Frankfurter Allgemeine" bemühte sich, die Ausschreitungen in erster Linie für Randale "without a cause" und "spaßgesellschaftlich grundierten Hooliganismus" zu halten, während ihre Münchner Konkurrentin der Wahrheit vermutlich näher kam: "Hier die Superreichen, unbefleckt von der Wirtschaftskrise - dort die Messerstecher, Schießwütigen, Plünderer, gestürzt vom Klippenrand einer bröckelnden Nation. In Großbritannien ist soziale Ungleichheit so festzementiert wie nirgendwo sonst in Europa. Wer sagt, die Krawalle kämen überraschend, lügt." Nach Auffassung des britischen Premiers Cameron wiederum geht es "den Randalierern um Diebstahl, nicht um Protest oder politische Aussagen".

Politischer Krawall

Was nun aber, wenn Diebstahl eine politische Aussage ist? Das Ausräumen einer Bank ist nichts gegen die Gründung einer Bank - Brechts Kalenderspruch mag den scheinbaren diagnostischen Widerspruch zwischen Hooliganismus hier und sozialer Rebellion da auflösen, denn niemand schlägt grundlos eine Scheibe ein, genauso wenig wie jemand grundlos einen Menschen in der U-Bahn tottritt, auch wenn Boulevardmedien das gerne behaupten. Mag sein, unter den Randalierern von London sind tatsächlich Hools, denen Gewalt Selbstzweck ist, die sich, schlicht gesagt, einfach gerne prügeln, und man weiß, dass unter denen, die an Wochenenden ins Stadion gehen, um den gegnerischen Fanblock aufzumischen, auch Bankangestellte sind. Aber es sind - Ausnahmen mögen auch hier die Regel bestätigen - immer die aus dem unteren Viertel der Gesellschaft, die treten, schlagen, plündern. Dass sie dabei in den seltensten Fällen ein politisches Programm haben, muss man ihnen nicht vorhalten, denn hätten sie je Gelegenheit gehabt, sich eins zu bilden, müssten sie das, was zu artikulieren ihnen nie jemand beigebracht hat, nicht ohne Worte ausdrücken. Was sich dem Vorwurf aussetzt, bloß das bequeme Schreibtischgerede von Gutmenschen und Sozialfuzzis zu sein, hat den Vorteil, dass es empirisch nicht zu widerlegen ist, denn auch wenn Kinder aus Gutverdienerhaushalten auf- oder sogar straffällig werden, ist fast immer von Verwahrlosung die Rede, die es durchaus auch als eine des Wohlstands gibt. Und doch seltsam jedenfalls, dass es keine Straßengangs gibt, die sich aus Privatschülern rekrutieren.

Es protestieren die Abgehängten

Die Beobachtung, dass physische, konkrete Gewalt gegen Sachen und Menschen ohne Umweltbedingungen, die diese Gewalt fördern, so gut wie nicht vorkommt, müsste für genügend Scham reichen, sich nicht als Regierungschef vor seinen Oxford- und Cambridge-Kumpanen aufzubauen und nach den Ursachen für Gewalt nicht einmal fragen zu wollen, wo man doch selbst für diese Ursachen bolzengerade einsteht. Dass in Tel Aviv die Menschen friedlich zelten, während Hackney und Tottenham brennen, hat hauptsächlich damit zu tun, dass in Israel die Mittelschicht demonstriert, in Großbritannien aber die Abgehängten auf die Straße gegangen sind, die wissen, dass ihnen in der exemplarisch starren Klassengesellschaft des Vereinigten Königreichs niemand zuhört, wenn sie nicht Zunder geben, und dass sie in Zeiten, wo es auch den Mittelschichten längst an den Kragen geht, sich die Studiengebühren in Großbritannien mehr als verdoppelt haben, jeder zweite junge Mensch in Spanien arbeitslos ist und jedes sechste deutsche Kind armutsgefährdet, nicht damit zu rechnen brauchen, es ändere sich irgendetwas zu ihren Gunsten. Schon eher ganz im Gegenteil. (Stefan Gärtner, derStandard.at, 12.8.2011)