STANDARD-Schwerpunkt Digital leben

Grafik: DER STANDARD

Flagge des eigenen Standpunkts, ausgestellt auf net.flag.

Lange Zeit hat die Politik die Digitalisierung der Gesellschaft und die damit verbundenen Umwälzungen verschlafen. Wesentliche Entscheide wurden im fernen Brüssel oder im noch ferneren Genf, am Sitz der World Intellectual Property Organisation (Wipo), getroffen und in Wien mit dem Verweis auf internationale Verpflichtungen eher still umgesetzt.

Das Thema galt lange als unverständlich, unwichtig und unpopulär. Mit dem Auftauchen der Piratenpartei in Schweden begann sich das langsam zu ändern. Im österreichischen Parlament fand im Januar dieses Jahres eine erste Enquete zum Thema statt.

Das war auch höchste Zeit, denn es stehen einige drängende Fragen an, deren politische Beantwortung nicht unwesentlich den Charakter der Informationsgesellschaft prägen wird.

Digitale Zugänge

Ähnlich wie Wasser, Strom, Straßen und Schiene muss in der Informationsgesellschaft der Zugang zu digitalen Netzwerken ein Grundrecht sein, das nicht dem unregulierten Markt überlassen werden darf. Wenn Chancengleichheit und die Möglichkeit aller, am öffentlichen Leben teilzunehmen, ernst genommen wird, dann ist allgemeiner, freier und leistbarer Zugang zur Kommunikationsinfrastruktur unabdinglich.

Dies ist besonders im ländlichen Raum ein Problem, das einer politischen Lösung Bedarf. Eine auch für die hiesige Politik lösbare Aufgabe.

Neuausrichtung der Medien

Schon etwas mehr Optimismus verlangt der Glaube an die Fähigkeit der Politik, die Frage produktiv anzugehen, wie der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Medien für den digitalen Raum neu zu definieren wäre.

Die letzte ORF-Reform war sicherlich ein Schritt in die falsche Richtung. Wenn man die öffentlich-rechtlichen Medien rein über das technische Format - Fernsehen und Radio - definiert, dann braucht es keine visionären Fähigkeiten, um zu erkennen, dass ihre Relevanz dramatisch abnehmen wird, ebenso die Bereitschaft, sie weiterhin mit Gebühren zu finanzieren.

Dass mit der Futurezone genau der Kanal abgestoßen wurde, der nicht nur exemplarisch den Informationsauftrag erfüllte, sondern auch ein dem Fernsehen weitgehend fremdes Publikum ansprechen konnte, grenzt an aktive Selbstmarginalisierung.

Aber es gibt, etwa mit der BBC, durchaus wegweisende Beispiele, von denen man lernen könnte. So richtig schwierig wäre das nicht. Es ist eine Frage des Wollens.

Zugang zu Kultur und Wissen

Hier beginnen nun die Bretter richtig dick zu werden, die die Netzpolitik zu bohren hat. Die Digitalisierung hat bereits grundsätzlich verändert, wie wir mit Kultur und Wissen umgehen. Es steht heute außer Zweifel, dass es technisch möglich ist, Wissen und Kultur frei zugänglich und frei veränderbar zu machen.

Dieser Geist lässt sich nicht mehr in die Flasche zurückdrängen. Für alle unter 30 Jahren ist dies nichts Besonderes, sondern der Normalfall. Wäre da nicht das Urheberrecht, das sich in den letzten 300 Jahren nicht wesentlich verändert hat.

Die daraus entstehenden Probleme sind mittlerweile offensichtlich: Kriminalisierung von Alltagskultur, Blockierung von kulturellen, wissenschaftlichen und kommerziellen Innovationen, Reduktion der kulturellen Vielfalt.

Dazu kommt, dass, wie die Urheberrechtsindustrie nicht müde wird zu betonen, die Inhalte sich tatsächlich nicht mehr wirksam schützen lassen. Mit anderen Worten: eine Situation, in der es allen schlecht geht.

Im Grunde liegen solide Lösungsansätze bereits auf dem Tisch: Freigabe der Nutzung von Werken, um daraus substanziell neue zu schaffen (Fair Use); Begrenzung des Urheberschutzes auf die Dauer, in der ein Werk auch tatsächlich genutzt wird (Use it or lose it); Entkriminalisierung von Tauschbörsen durch eine Pauschalabgabe (Flat Rate). Diese oder andere Lösungen aber politisch durchzusetzen wird extrem schwierig werden.

Das Urheberrecht ist gesetzlich sehr tief verankert, es beruht auf internationalen Verträgen aus dem vorletzten Jahrhundert. Die Akteure, die den bestehenden gesetzlichen Rahmen für sich zu nutzen wissen, sind nach wie vor sehr mächtig und werden ihre verbrieften Eigentumsrechte bis ans Ende ihrer Tage verteidigen. Hier wäre echter politischer Gestaltungswille vonnöten, um den Übergang in ein neues kulturökonomisches Paradigma zu gestalten. Der ist aber weit und breit nicht zu erkennen, und so wird die Situation wohl erst schlechter werden müssen, bevor sie besser wird. Ein schwacher Trost für alle, die jetzt unter die Räder kommen.

Schutz der Privatsphäre

Die Privatsphäre schützen: Dieses Brett ist so dick, dass wir nicht einmal wissen, wie dick es wirklich ist. Fest steht, dass es für eine Demokratie und den Schutz von Minderheiten von großer Bedeutung ist.

Ansonsten droht die Tyrannei der Mehrheit im globalen Dorf, auch wenn das viele der heterosexuellen, weißen, männlichen Blogger nicht verstehen. Die wirklich schwierige Frage lautet aber: Was heißt heute, im Zeitalter von Google und Facebook, privat?

Da sind zum einen die persönlichen Informationen, die NutzerInnen aktiv und wissentlich mit ihren Freunden teilen. Sind die nun schon öffentlich, besonders wenn es sich um hunderte Facebook-Freunde handelt? Auf solche Fragen kann die Politik heute kaum antworten, denn die Situation ist sehr dynamisch und gibt noch kaum verlässliche kollektive Erfahrungen. Hier muss sie wohl zuerst den gesellschaftlichen Lernprozess abwarten, so unbefriedigend das sein mag.

Drängender ist aber die Frage der Privatsphäre im Bezug auf die Plattformanbieter. Auf deren Servern häufen sich ungeahnte Datenmengen an, die indirekt, durch die Aktivitäten der NutzerInnen, entstehen.

Bagatelldelikte

Die Existenz dieser Daten weckt Begehrlichkeiten aller Art. Die Strafverfolgungsbehörden haben Zugang zu einem kleinen Teil dieser Daten gesichert (Vorratsdatenspeicherung). Nun meldet sich die Urheberrechtsindustrie zu Wort, die diese Daten für die Aufklärung von Bagatelldelikten (Filesharing etc.) nutzen möchte. Hier könnte die Politik klare Grenzen setzen, scheint das aber nicht zu wollen.

Kommerzielle Interventionen

Die Handlungsfähigkeit des politischen Systems wohl gänzlich überschreitend ist die Frage, wie mit all den anderen Daten der Betreiber, von deren Umfang wir nur ein unklares Bild haben, umgegangen werden soll. Diese Daten liefern bereits heute die Grundlagen, immer stärker optimierte Angebote zu erstellen. Aber optimiert für wen und auf welchen Zweck hin?

Im Unterschied zu den Werbeblöcken im Fernsehen sind kommerzielle Interventionen nicht mehr als solche zu erkennen, denn sie betreffen nicht die Inhalte, sondern die Strukturen der Kommunikation selbst.

Es muss einen wohl bereits optimistisch stimmen, dass die etablierte Politik das Internet endlich wahrzunehmen beginnt. Zu weniger Optimismus Anlass gibt die Frage, ob sie den Problemstellungen auch gewachsen ist. (Felix Stalder, DER STANDARD, Printausgabe, 13./14./15.8.2011)