STANDARD: IBM ist bekannt für seine sehr rigiden Karriere-Hierarchien. Sie, Herr Lowe, waren gerade mal 31 Jahre alt, als der Konzern Sie mit der Entwicklung seines ersten PCs betraute. Wie kam das zustande?
William Lowe: Weil ich den Mund aufgemacht habe. IBM hatte sich in den 1970er-Jahren auf die Entwicklung hochkomplizierter, für die Massen unerschwinglicher Technologien verstiegen. Ich habe das bei einer Präsentation infrage gestellt. Viele meiner Vorgesetzten waren wütend, dass ein kleiner Manager ihre Strategie infrage stellte. Aber keine Woche später hat der IBM-Präsident Frank Cary mich zum Lunch ins New Yorker Hauptquartier bestellt und gefragt, was ich denn anders machen würde. Ich habe geantwortet, dass ich stets die Markttrends beobachte und dass Hewlett Packard gerade einen neuen Taschenrechner für 400 Dollar herausgebracht habe. Das klingt heute nach absurd viel, aber damals war es so viel billiger als der billigste Computer, den IBM verkaufte - der kostete um die 100.000 Dollar. Ich wollte prüfen, wie wir unsere Preise drücken können. Cary hat zugestimmt, und so begann unter dem Namen Manhattan Project meine Arbeit am ersten PC.
STANDARD: Ihr Team stellte den PC in einer Rekordzeit von nicht einmal einem Jahr fertig - viermal schneller als die damals üblichen Zeitspannen in der IBM-Produktentwicklung. Ein Glücksfall?
Lowe: Nicht ganz. Ich hatte erstklassige Mitarbeiter, mir aber auch von Anfang an völlig freie Hand ausbedungen. Das war unser Schlüssel zum Erfolg. Wir kamen deshalb so schnell - und auch billiger als die anderen - voran, weil wir zum ersten Mal in der IBM-Geschichte nach dem Prinzip der "offenen Architektur" arbeiten durften: Statt alles selbst neu zu entwickeln, kauften wir Soft- und Hardware bei Fremdherstellern ein. Der erste IBM-PC schlug ein wie eine Bombe: In den ersten drei Jahren wurden zwei Millionen Stück verkauft, viermal mehr als ursprünglich geplant.
STANDARD: Und doch war der Pionier wenige Jahre später nur noch ein Anbieter von vielen, die IBM-PCs wurden zu Ladenhütern. Wie konnte das passieren?
Lowe: Als Frank Cary in Rente ging, haben sie mir meine Privilegien weggenommen: Die neue Führungsriege wollte, dass ich für die Weiterentwicklung nur noch IBM-interne Technologien verwende. Bill Gates, dessen damals noch winzige Firma Microsoft ich mit ins Boot gebracht hatte, um das Betriebssystem der ersten IBM-PCs zu entwerfen, war so frustriert, dass er sich von uns abgewandt hat. Das war der Anfang vom Ende. Während IBM seine ganze Energie damit verschwendete, sich abzuschotten, entwickelte die Konkurrenz zukunftsfähigere Konzepte mit herstellerübergreifenden Standards, die sich schließlich auch in der Industrie durchgesetzt haben.
STANDARD: 1988 wechselten Sie zu Xerox, wo Sie das erste Digitaldrucksystem Docutech entwickelten, danach haben Sie den Flugzeugbauer Gulfstream geleitet und 30 Start-ups mit aufgebaut. Hatten Sie nie Angst, sich zu verzetteln?
Lowe: Nein, denn ich habe im Prinzip immer nur dieselbe Formel wiederholt, die mir schon bei IBM zum Durchbruch verholfen hatte. Produkt und Firmenname sind letztlich Nebensache. Ob PC, Drucker, Flugzeuge oder Internet: Am Anfang steht für mich stets die Frage, wie richtungsweisend eine neue Technologie ist und wie stark sie dazu beitragen kann, der Welt eine neue Richtung vorzugeben. Dann geht es darum, einen guten Plan auszuarbeiten, der von der Chefetage unterstützt wird. Ich fand es nie sinnvoll, um die Gunst des mittleren Managements zu buhlen. Innovationen werden von ihnen oft mit Argwohn betrachtet, weil jeder seinen kleinen Verantwortungsbereich schützen will.
STANDARD: Welche Entwicklung hat Sie seit dem PC am meisten überrascht?
Lowe: Ich bin bis heute sprachlos, wie zutreffend die Prognose einer meiner früheren IBM-Berater war. Noch ehe es PC und Internet gab, sagte er: "Eines Tages werden alle Informationen für alle Menschen zugänglich sein, wann immer sie wollen und egal, wo sie sich auch befinden." Der heutige Zugang ist gewaltig, aber zugleich eine große Herausforderung. Wenn ich mir etwa anschaue, wie sehr sich die Berichterstattung in den Medien verändert hat: Die Nachrichten kommen mittlerweile so schnell, dass sie mitunter gar nicht mehr überprüft werden. Der Unterschied zwischen wichtig und banal, zwischen richtig und falsch ist schwierig geworden.
STANDARD: Und was halten Sie von dem Siegeszug der sozialen Netzwerke? Sind Sie auf Facebook?
Lowe: Aber klar doch, und ich finde das klasse. Viele Menschen behaupten, dass Facebook unseren Kindern schadet, weil sie zu viel Zeit damit vergeuden. Dem halte ich entgegen, dass mein fünfzehnjähriger Sohn ein ziemlich guter Basketballspieler und fitter ist als die meisten seiner Kameraden, obwohl er jeden Tag zwei Stunden vor seinem Computer verbringt. Ob man es mag oder nicht, diese Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten. Es hat keinen Zweck, der Jugend den Zugang dazu zu verbieten, das macht sie nur weltfremd. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, unseren Kids beizubringen, wie sie das, was ihnen zur Verfügung steht, sinnvoll und balanciert nutzen können.
STANDARD: Welche Innovationen erwarten Sie für die nahe Zukunft?
Lowe: Schwer einzuschätzen. Aber ich kann Ihnen sagen, wofür ich mich einsetze: Die USA haben ein gravierendes Bildungsproblem. In Städten wie Detroit schafft noch nicht einmal ein Viertel der Schüler den High-School-Abschluss. Diese Tragik wurde lange unterschätzt, weil es genug gutbezahlte Fabrikjobs gab, für die es keinerlei Qualifikationen bedurfte. Dem ist heute nicht mehr so. Ich will dieses Problem lösen. Ich glaube, dass die neuen Technologien uns dabei helfen können. Ich arbeite seit anderthalb Jahren wieder mit IBM zusammen, und zwar an einem CloudComputing-Thin-Client-Programm für Schüler. Wir geben ihnen die Möglichkeit, übers Internet auf Unterrichtssoftware zuzugreifen. Die Kids können selbst entscheiden, in welchem Tempo sie das Material bewältigen wollen.
STANDARD: Und das funktioniert?
Lowe: Absolut. Die ersten Testläufe waren sehr vielversprechend. Es gab Schüler, die zwei oder drei Semester in einem einzigen Semester bewältigt haben. Da die Lehrer nicht mehr ständig selbst alles wiederholen müssen, bleibt mehr Zeit für Kinder, die zusätzlich Hilfe brauchen. Weder der PC noch der Macintosh sind für unsere Klassenzimmer geeignet, da sie häufig abstür-zen, und viele Schulen haben weder genügend Geld noch Personal für die Wartung. Die Thin Clients lösen dieses Problem, weil sie zwar über einen Bildschirm und eine Tastatur verfügen, aber nicht über eine Recheneinheit. (Beatrice Uerlings, DER STANDARD Printausgabe 13. August 2011)