Mehrere 100.000 Musikvideos von ihr flimmern über den Videodienst Youtube. Ihr Mega-Hit The World is mine wurde fast sieben Millionen Mal angeklickt. Doch nicht nur diese Popularität macht Japans neuen Schlagerstar Hatsune Miku zum Traum aller Musikproduzenten. Sie ist nicht nur unverschämt erfolgreich, sondern auch ewig jung und faltenfrei, wandlungsfähig und ohne Zicken.
Genauer gesagt: Hatsune ist keines dieser Kunstprodukte aus Fleisch und Blut, die sich als echte Popstars auszugeben versuchen. Oder die wie die Madonnas dieser Welt selbst im Alter bei fortgeschrittenem Faltenwurf verzweifelt jung und botoxglatt wirken wollen. Sie ist ein echter Fake, eine Stimmsoftware, um die eine lebensgroße, dreidimensionale Trickfigur aus Bytes und Bits gebaut wurde.
Die Urfigur sieht dabei aus wie aus einem japanischen Anime-Trickfilm geschlüpft: große Augen, kleine Stupsnase, Piepsstimme und blaue Zöpfe, die fast bis auf den Boden reichen. Ihre Entwickler haben ihr sogar menschliche Maße verpasst, um sie lebensgroß als dreidimensionale Projektion in Live-Konzerten aufleben zu lassen. Hatsune Miku ist demnach gerade 16 Jahre alt, 158 Zentimeter groß und 42 Kilogramm leicht.
In Japan ist der spindeldürre digitale Everteen bereits ein Massenphänomen. Im März 2010 strömten tausende Mädchen, junge Frauen und Männer in Mikus erstes Live-Konzert in Tokio. Auf der Bühne warf die Leinwandprojektion ihre langen Zöpfe und Beine in die Luft und sang. Hinter ihr spielte die Band, und vor ihr schwenkten ihre Verehrer Leuchtstäbe und sangen die Songs mit, die irgendwelche Fans zuvor mit der Hatsune-Miku-Stimmsoftware komponiert hatten.
In der konzertfreien Zeit geht es nicht weniger lebhaft zu. Tausende Fans bieten auf der Internetseite Piapro.jp von Mikus Erschaffer Crypton Future Media auch eigene Texte und Kurzgeschichten, Zeichnungen und 3-D-Modelle von Figuren aus dem wuchernden Hatsune-Miku-Universum zum Download an.
Erster Auftritt in Übersee
Angespornt von dem Hype daheim setzten die Erfinder des Kunst-Girls nun zur Welteroberung an. Im Juli gab Hatsune ihr erstes Live-Konzert in Übersee - im Nokia Theatre in Los Angeles, der Heimat von Stars und Sternchen. "Wir hoffen, eine weltweite Bewegung zur Kreation und zum Genießen von Hatsune Miku zu entwickeln", sagt Hiroyuki Itoh, Chef der japanischen Softwareschmiede Crypton Future Media.
Auf den ersten Blick scheint es verlockend, dem Vorhaben wie dem Phänomen die Marke "Crazy Japan" aufzukleben. Aber wie der legendäre Erfolg des elektronischen Kükens Tamagotchi gezeigt hat, ist der Rest der Welt genauso verrückt wie Japan, nur weniger willens, sich das einzugestehen. Doch der vermeintlich rationale Westen schließt langsam zu Japan auf - wie Hatsune zeigt.
Auf der weltweiten Manga-, Anime- und J-Pop-Welle hat sich Hatsune Miku auch ganz ohne Zutun ihrer Erfinder in die Herzen der asiatischen, europäischen und amerikanischen Jugend gesurft. Die Hatsune-Miku-Gruppe auf Facebook hat inzwischen schon mehr als 200.000 Jünger.
Für Softwareentwickler Itoh liegt der Schlüssel zum Verständnis über die Begeisterung seines "Kindes" in einem Wort: Kreativität. "Menschen wollen gestalten, und Hatsune Miku gibt ihnen ein Mittel dazu", sagt er. "Sie ist ein Gefäß, in das sie ihre Ideen verpacken können." Die Fans können nicht nur ungestört von Skandalen oder Interviews ihre Fantasien in sie hineinprojizieren, sondern sogar ihren Charakter oder ihr Aussehen nach eigenem Gutdünken programmieren.
"Kette der Kreation"
Das Ziel von Itoh und den anderen Väters des Everteens ist dabei nicht, eine Konsumwelle auszulösen. Sie wollen eine "Kette der Kreation" schaffen. Dass es so gut funktioniert, hat einen einfachen Grund: Tausende von Fans schöpfen Texte aus ihren Herzen. Und viele Songs sprechen die Träume und Ängste der Menschen so gut an, dass sie zu Mega-Hits werden.
Hatsune Miku ist die zu Bits und Bytes gewordene Vision vom vielbeschworenen Web 2.0. Sie ist das Paradebeispiel dafür, dass "User Generated Content", von den Nutzern selbst gestalteter Inhalt, nicht nur Einheitsbrei hervorbringt - sondern sich ökonomisch auch rechnen kann.
Die beliebtesten Stücke vermarktet Itohs Unternehmen an Drittfirmen, die sie gegen Lizenzgebühren für eigene Kampagnen oder Produkte verwenden. "Wir sind profitabel", sagt Itoh.
Das junge Abenteuer hat noch viel Potenzial. Erst 2007 hat sich die kleine Softwareschmiede im entlegenen nordjapanischen Sapporo entschlossen, eine Stimmsynthesizer-Software zu verkaufen, die sie Hatsune Miku nannte. Der Name setzt sich zusammen aus den zwei Schriftzeichen "Hatsu" ("Erster" oder "Anfang") und "Ne" ("Ton"). "Miku" bedeutet "Zukunft". Sie ist also der erste Ton der Zukunft.
Itoh ruft immer weitere Stars ins Leben, die das Angebot an Identifikationsfiguren abrunden sollen. Wie etwa die präpubertären 14-jährigen zweieiigen "Zwillinge" Kagamine ("Spiegelton") Rin und Ren - oder Megurine, frei übersetzt der "herumstreunende Ton". (
Martin Kölling, DER STANDARD - Printausgabe, 13./14./15. August 2011)