Stav Shafir ist eine der jungen Frauen an der Spitze der Protestbewegung, die Israel durch ihren Einsatz schon jetzt verändert haben. "Anstatt einer getrennten, wollen wir eine geeinte Gesellschaft", sagt sie.

Foto: Andreas Hackl

In der Mitte des Rothschild Boulevards in Tel Aviv warte ich auf die junge Protestführerin Stav Shafir. Es ist fast Mitternacht. Trotzdem strömen hier immer noch die Massen durch das Zeltlager. Es ist das größte aller Camps und das pulsierende Herz der Bewegung gegen „soziale Ungerechtigkeit". Über eine Strecke von mehr als zwei Kilometer stehen hier laut aktueller Zählung rund 2000 Zelte. Die Stimmung gleicht einem Festival. Bands geben Konzerte, auf Leinwänden werden Filme gezeigt und Rettungswagen stehen zur ärztlichen Versorgung bereit. „Es ist eine Stadt in einer Stadt", beschreibt es Stav später.

„Noch zehn Minuten", schreibt sie mir per SMS während ich warte. Um die junge Frau zu treffen, die das allererste Zelt mit aufgebaut hat, nimmt man sich gerne Zeit. Nach einer halben Stunde rollt sie mit dem Fahrrad heran, begrüßt mich kurz und deutet die Straße hinauf. Über die Freisprechanlage ihres iPhones ist sie tief in ein Gespräch verwickelt. „Sorry", sagt sie, während wir ein Lokal suchen. Sie wirkt sehr stilvoll mit ihrem roten, langen lockigen Haar und dem grünen Kleid. Als eine der Anführerinnen der Protestbewegung trägt sie viel Verantwortung. Und sie weiß, was sie tut. Jeden Morgen steht sie um 5:30 auf und gibt die ersten Radiointerviews. Danach Treffen, Besprechungen und wieder Interviews. „Vor vier komme ich nie ins Bett, schlafe oft nur eineinhalb Stunden. Aber ich lebe vom Adrenalin dieser Bewegung", sagt sie bei einem Bier in einer nahegelegenen Bar.

Müde wirkt sie nicht, obwohl sie es eigentlich sein sollte. Denn was sie und die anderen Initiatoren erreicht haben, muss immens viel Energie gekostet haben. Alles hat vor etwa einem Jahr begonnen. Damals war Stav mit einem Freund auf Wohnungssuche. "Ein Albtraum", sagt sie. Eine Ewigkeit hätten sie nichts gefunden. "Wir haben uns frustriert zusammengesetzt und darüber geredet, dass die Menschen dagegen auf die Straße gehen sollten." Nachdem sie dann schlussendlich doch eine Bleibe gefunden hatten, fiel die Idee wieder unter den Tisch. Bis vor Kurzem. Nachdem die junge Filmemacherin Dafne Leef nach einer ebenso erfolglosen Wohnungssuche im Juli eine Facebook-Gruppe gegen teures Wohnen gründete, machten die drei gemeinsame Sache. Am 14. Juli ziehen sie in ein Zelt in Tel Aviv. „Das erste Zelt habe ich mit eigenen Händen aufgebaut", sagt sie und fügt hinzu: "Die Stadtregierung dachte, wir wären spätestens nach dem Wochenende wieder weg." Ein Irrtum, wie man heute weiß.

Am 6. August strömten 300.000 Menschen durch Tel Aviv, Jerusalem und andere Städte. „Das Volk will soziale Gerechtigkeit" ist ihr zentraler Slogan. Diesen Samstag wird aber nicht in den großen Städten, sondern in der Peripherie protestiert werden. „Wir wollen damit die Leute aus ihren Seifenblasen in Tel Aviv und Jerusalem holen", erklärt Stav. Die größten Proteste werden in der südlichen Stadt Beer Sheva und in Haifa, an der Küste im Norden stattfinden. Wie es von hier weitergeht, weiß auch Stav nicht so genau. „Aber mit dem Komitee der Regierung verhandeln wir nicht. Das ist eine reine Verzögerungsstrategie von (Premierminister) Netanyahu", meint sie. Das Ziel ihrer Bewegung sei „ein Wohlfahrtsstaat mit öffentlichen Wohnungen, besserer Bildung und einem funktionierenden Gesundheitssystem." So soll auch das Wirtschaftssystem in Israel geändert werden.

Auf die Frage, ob der Protest nicht schon zu sehr einem Dauerfestival ähnelt, meint Stav: „Ich denke die Auffassung, dass Proteste keinen Spaß machen sollen, ist falsch. Die Menschen können hier endlich wieder ihren Träumen Ausdruck geben. Anstatt in Shops und Kaffeehäusern rumzuhängen, sind wir hier und tauschen uns in Workshops aus."