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Poetisch-theatrales Familientreffen bei den Salzburger Festspielen in Peter Handkes "Immer noch Sturm": Bibiana Beglau (als Ursula), Jens Harzer (als Ich) und Heiko Raulin (als Bruder Benjamin).

Foto: AP/Kerstin Joensson

Regisseur Dimiter Gotscheff söhnt Handkes verquere Poesie mit der Theatermoderne aus.

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Hallein - Sollte Frau Holle eine Kärntner Slowenin sein, so meint sie es gut mit ihren frostgeplagten Landsleuten: Aus einer Trommel hoch über dem Jaunfeld schüttelt sie unentwegt grüne Blätter über Peter Handkes Familie aus. Der Stichwortgeber aber humpelt selbst ins Bild. In Immer noch Sturm, diesem Requiem auf einen wenig gelittenen Volksstamm im Süden Österreichs, ist es Handkes Alter Ego (Jens Harzer), das am Stock in die Heidelandschaft flüchtet. Handkes großartigster Stückentwurf seit vielen Jahren ist eine Liebeserklärung an die eigene Herkunft: auf der kahlen Bühne der Halleiner Pernerinsel im Ton der großen, alten Epiker rührend eigensinnig vorgetragen.

Harzer, der über den fein abschmeckenden Ton des jungen Bruno Ganz verfügt, der ihn aber in andere Bezirke der Weltwahrnehmung trägt, säße laut Text eigentlich auf einer Holzbank, ein Apfelbäumchen neben sich. Der Dichter träumt sich zurück in eine Welt, die schon deshalb nie die heile sein konnte, da sie auf die Duldung durch die sogenannte Deutsch-Kärntner Mehrheitsbevölkerung angewiesen war.

Handkes slowenische Sippe geistert seit je durch seine Dichtungen. Der Erzähler dieser Inszenierung nimmt sogar das Los auf sich, selbst Handke zu sein: Harzer trägt dessen schwarze Sonnenbrille, und er thront auf einem Barhocker, um ebenso aufsässig wie duldungsstarr das Martyrium der Slowenen auf sich zu nehmen. Immer noch Sturm gleicht einer szenischen Familienaufstellung: Großvater und Großmutter stehen inmitten der Schar ihrer Kinder. Die Töchter bilden das antipodische Paar der Koketten (Oda Thormeyer) und der Herben (Bibiana Beglau): die eine mit sorgfältig frisiertem Haar, die ihrem mittleren Bruder (Hans Löw) ungeziemend schmeichelt, während die spröde Schwester in der Kittelschürze demonstrativ abseits steht.

Studium des Obstes

Man schreibt sehr bald das Jahr 1936: Der älteste Sohn (Tilo Werner) betreibt in Maribor das Studium des Obstbaus, woraufhin er die Merkmale aller ihm geläufigen Apfelsorten in Prosa-Paragrafen fasst. Der mittlere, ein Draufgänger im weißen Anzug, wühlt sich durch die Betten der Jungbäuerinnen. Das Nesthäkchen (Heiko Raulin) in den kurzen Hosen bildet im Geleitschutz der Geschwister seine kindischen Abneigungen und Schrullen aus. Meisterregisseur Dimiter Gotscheff, dem man ein Theaterereignis von wirklichem Festspielrang zu danken hat, blättert mit spürbar wachsender Begeisterung im Text: In diesem werden die Figuren in unruhig tastender Bewegung in die Antike, in König Lears Heidelandschaft, in das epische Theater hineinversetzt. Eben weil Gotscheff bei Heiner Müller in die Schule gegangen ist, besitzt er ein untrügliches Wachgespür für Handkes Vermummungsverbote.

Die Figuren gelangen mit den ihnen in den Mund gelegten Sätzen nie zur Deckung. Die Schauspieler des Hamburger Thalia-Theaters eignen sich den Dialekt - ganz zu schweigen vom Slowenischen - als etwas faszinierend Fremdartiges an. Mit den Jahren zerfließt das Idyll. Die eingerückten Söhne rezitieren ihre Feldpostbriefe. Die gute Mutter (Gabriela Maria Schmeide) hockt auf ihrem Melkschemel. Der rechtschaffene Vater (Matthias Leja) hat gegen alles Bundesdeutsche gewettert und gegen den Begriff "Heimat", dem er, ganz im Orakelton seines Enkels Peter, das Wort "Bleibe" vorzieht.

Die schöne Tochter wird von einem Wehrmachtssoldaten geschwängert: Klein Peter sitzt in ihrem Bauch, und man meint den Dichter schallend lachen zu hören, wie er sich selbst, auf dem Kärntner Jaunfeld, mit seiner Möglichkeitsform konfrontiert. "Ohne Euch kein Spiel", ruft aber auch Harzer, der im endlosen Geriesel der Blätter immer heftiger interveniert und das Glück wie das Scheitern seines poetischen Vergegenwärtigungsversuches beklagt. "Wie soll ich die Geschichte bloß dramatisieren?" Das schreiende Unrecht, das den Slowenen erst durch die Nazis, dann durch Österreich widerfuhr, zerbricht auch das "Stück". Denn während der älteste Sohn und die zweitgeborene Schwester zu den Partisanen überwechseln, sterben die Wehrmachtssoldaten, kriechen die Daheimgebliebenen vor den "Untersturmführern" (eine beklemmende Szene). Gotscheff packt das Weh des 20. Jahrhunderts in gellendes Entsetzen. Es ist der "Dichter" (Harzer) selbst, der die Register wechselt und von nun an "Klartext" redet. Reihum wird die Geschichte aufgesagt, während Handke alias Lear sich den Zottelbart rauft.

Im Dunst der Dichtung

Der Spielleiter wird auch der Übriggebliebene sein: derjenige, der gegen das Primat der Politik seine Prosaarien schmettert. Die Familie "Siutz", Handkes Vorfahren, löst sich im Dunst der Dichtung auf: die Großeltern als garstiges Paar, dem Irresein nahe, wobei die Oma ihren Flechtzopf ekstatisch herumwirbelt, die Ahnen aber in der Rückwand von Katrin Bracks Bühne verschwinden.

Wenn Frau Holle ihren Blätterpolster endlich leergeschüttelt hat, fängt Harzer erst richtig an. Er stapft durchs Laub und entfesselt die Suada eines lebenslangen Dagegensprechers. Die Intensität dieses Solos ist beispiellos: Er fragt, ob sich die Slowenen, die in den Wald in den Widerstand gegangen waren, "vermessen" hätten. Ob sie, als sie für Österreich gekämpft hatten, ihr "altes Recht" sich widerrechtlich angeeignet hätten. Harzers Monolog gleicht einem ebenso manischen wie melancholischen Saxofonsolo. Wie im Wahnsinn rast der Schauspieler die Skalen der Wirklichkeitsbeschwörung auf und ab.

Das Stück hebt sich selbst auf: Es hätte nicht passender enden können. Als der Dichter zum Applaus erschien, wirkte er ruhig, ja: heiter. Er wusste sein Anliegen in den denkbar besten Theaterhänden aufgehoben. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 16. 8. 2011)