Die US-Wirtschaft bleibt bettlägerig, während die Arbeitslosenquote im Juni auf 9,2 Prozent angestiegen ist. Beinahe die Hälfte der Erwerbslosen war mindestens sechs Monate ohne Anstellung - ein historischer Wert, der selbst in der Great Depression in den 1930ern nicht erreicht wurde. Während der Mittelstand seit 1969 um rund zehn Prozentpunkte dahingeschmolzen ist, war Armut seit Beginn der empirischen Erfassung nie verbreiteter als heute. Und der kometenhafte Anstieg des Einkommens der oberen zehn Prozent - und im Besonderen des oberen einen Prozents - ist seit der wirtschaftlichen Blütezeit Amerikas zum Ende des 19. Jahrhunderts beispiellos.

Tragischerweise erleben wir dieser Tage die Neuinszenierung der Fehler von 1937, als die US-Regierung versuchte, sich durch Kürzungen aus dem Fangnetz der Krise zu schneiden und dadurch die Rezession noch beschleunigte. Der heute vorgeblich "demokratische" Präsident hat die Logik konservativer Republikaner adaptiert, die Schulden und Staatsdefizit als Grund für das wirtschaftliche Siechtum Amerikas sehen - und nicht die hohe Arbeitslosigkeit und fehlenden Konsum. Dabei bedeuten Ausgabenkürzungen inmitten einer sich abkühlenden Konjunktur die Aufgabe von 75 Jahren keynesianischer Grundlehren und die Wiederholung der tragischen Fehler von 1937.

Es gibt keine Linke in den USA

Dass in Washington allein das "Wo" und "Wie" von Ausgabenkürzungen debattiert wird, ist keineswegs bloß ein episodischer Sieg für die aufsteigende Tea Party, sondern die logische Fortführung eines 30 Jahre anhaltenden Abdriftens des amerikanischen Politsystems nach Rechts. Um die Pathologie Amerikas verstehen zu können, muss man sich zunächst bewusst machen, dass der Kalte Krieg die gesamte linke Hälfte des politischen Spektrums ausgelöscht hat. Linksaußen ist in den USA dort, wo in den meisten Ländern die rechte Mitte verortet würde.

Doch noch bedeutender für die wachsende Adhäsionskraft von Rechts war die Regierungszeit von Ronald Reagan in den 1980ern, seine Angriffe auf das kollektive Arbeitsrecht und die Liberalisierung der Wirtschaftspolitik. Die Stellung der Gewerkschaften wurde so stark untergraben, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Amerika heute tiefer liegt als in jeder anderen fortgeschrittenen Industrienation. Die Reallöhne von Arbeitern stagnieren auf dem Niveau der 70er-Jahre, trotz substanziell gestiegener Arbeitsproduktivität.

Das Ergebnis dieses Trends: Beide Parteien lassen ihre Wahlkampfkassen von Großunternehmen füllen und haben das Mantra "keine neuen Steuern" verinnerlicht. Der Steuersatz für Unternehmen und Reiche ist auf einem historisch niedrigen Niveau, der Anteil des Steueraufkommens am BIP beträgt nur noch 16 Prozent. Hinzu kommen circa 4 Billionen Dollar Schulden für Auslandskriege und Steuerverluste aufgrund der aktuellen Rezession.

Der Traum ist tot

Während die Republikaner seit jeher mit den Gewerkschaften und sozialen Programmen zur Förderung des Mittelstandes auf Kriegsfuß stehen, nutzt die Tea-Party-Bewegung ihre vorgespielte Sorge um das Haushaltsdefizit, um ungeniert der Sozialversicherung für Ruheständler, der Arbeitslosenversicherung, der Krankenversicherung und dem Gesundheitsdienst für die Armen ein Ende zu bereiten. Das Ziel ist ein schlanker Staat - auch wenn dadurch der Mittelstand ausgeschlachtet und die Wirtschaft ruiniert wird.

Die jüngsten Entwicklungen sind jedoch nur Ausdruck einer tieferen Malaise, die die amerikanische Psyche umhüllt: Der gefühlte Verlust der sagenumwobenen upward mobility, der Aufstiegsmöglichkeit vom Tellerwäscher zum Millionär und die Trübung des einst eisern-optimistischen Blickes in die Zukunft. Derartige Entwicklungen legen nahe, dass der Rest der Welt bald nicht länger nach Amerika als den Hort von Freiheit, Aufstiegschancen und Gerechtigkeit wird blicken können. Der lebendige politische Aktivismus des amerikanischen Bürgertums in den 60er- und 70er-Jahren, den Gil Scott-Heron in seiner Hymne "The Revolution Will Not Be Televised" beschreibt, schlummert oder ist tot. Passender scheint heute sein melancholisches Folgewerk "Winter In America". (derStandard.at, 17.8.2011)