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Erschüttert vom System, das nur die "Fat Cats" bedient: Prominente Konservative schwören ihrer Ideologie ab.

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Robert Misik: "Intellektuell ausgedünnter Konservatismus."

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Es gibt so Texte, die einschlagen. Die Kolumne, die Charles Moore vor ein paar Wochen im britischen Daily Telegraph schrieb, war so ein Text dieser Art. "Ich beginne zu denken, dass die Linke recht hat", schrieb Moore. Das ist deshalb so bemerkenswert, weil Moore seit Jahrzehnten eine Zentralfigur des britischen Konservativismus ist, Reagan- und Thatcher-Anhänger der ersten Stunde. Moore ist auch der offizielle Biograf der erzkonservativen Eisernen Lady Margaret Thatcher.

Jetzt hat Frank Schirrmacher, der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Sonntags-FAZ nachgelegt. In enger Anlehnung an Moore überschrieb er seinen Essay: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat." Und dann legt er los: Das politische System diene nur den Reichen. Werte wie Autonomie, Freiheit, freie Marktwirtschaft, Individualismus, die von Bürgerlichen immer hochgehalten wurden, aber auch Catch-Phrasen wie "Globalisierung", seien von den Neoliberalen gekapert worden.

Nichts von dem, was sie versprachen, sei gehalten worden, das alleinige Resultat sei vielmehr, dass sich ein paar wenige allen Reichtum unter den Nagel reißen konnten, während sie sich, wenn sie dann einmal Pech haben, wie die Banken ihre Verluste vom Staat sozialisieren lassen. Und all das linke Anprangern, das habe doch jahrelang so altväterisch ausgesehen, aber plötzlich zeige sich: Die haben recht gehabt.

Der FAZ-Herausgeber referiert all das, er hangelt sich in ganzen Absätzen entlang der Philippika von Moore, man weiß streckenweise nicht, wo Moore aufhört und Schirrmacher anfängt, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass er all das teilt. Er und andere im bürgerlichen Lager, so Schirrmacher, müssen zugeben, dass sie sich fragen, "ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang". Anders gesagt: Alles, was man bisher dachte, beginnt zu wanken.

Ein Seitenwechsel

Gewiss, wenn jemand wie, sagen wir, Jean Ziegler oder Sarah Wagenknecht vom Skandalon schriebe, "dass die Reichen immer reicher werden", dann hielte sich der News-Wert in Grenzen. Erstaunlich sind die Sätze, weil sie von einflussreichen konservativen Autoren kommen. Und weil sie nicht einfach sagen: Unsere Leute haben in dieser oder jener Frage unrecht. Sondern weil sie klipp und klar sagen: Wir müssen einsehen, die anderen haben recht. Solche Texte kommen einem Seitenwechsel gleich.

Wenn wir in einem Akt hermeneutischer Lektüre versuchen wollen zu verstehen, warum diese Autoren gerade jetzt diesen Seitenwechsel annoncieren, dann liegt zunächst einmal der Schluss nahe: Sie sind wohl zunächst und primär erschüttert vom Zustand des Konservativismus. Der Mainstream-Konservativismus, wie Schirrmacher ihn beschreibt, hat sich praktisch zum bloßen Erfüllungsgehilfen von Plünderern gemacht und ist intellektuell vollkommen ausgedünnt.

Er hält das System einfach weiter am Laufen, das die "Fat Cats" bevorzugt, aktionistisch, von Rettungsprogramm zu Rettungsprogramm. Dieses Vakuum wird aber nicht von einem klugen, vernünftigen Konservativismus gefüllt, sondern von einem irren und wirklichkeitsfremden. Von einem, der mit dem rechten Populismus flirtet. Oder gar von einem radikalen Konservativismus nach Tea-Party-Modus, der alle Vernunft, auch die ökonomische, fahren lässt. Von einem verantwortungslosen Konservativismus, der bereit ist, ganze Volkswirtschaften zu verheeren und ganze Nationen pleitegehen zu lassen, nur weil das seinen ideologischen Verbohrtheiten entspricht.

Das gilt nicht nur für Amerika, wo gerade der ultrakonservativen Michele Bachmann die Herzen des rechten Lagers zufliegen. In Europa ist es kaum besser: Da hat gerade Tory-Premier Cameron seine Sicht der Jugendkrawalle dargelegt, nämlich dass es den Armen an "Moral und Disziplin" fehle, und in Deutschland will die FDP ihrem Klientel immer noch Steuererleichterungen zuschanzen, trotz klammer Kassen; und ansonsten liebäugelt man mit einem "Kein Geld für Pleitegriechen"-Populismus.

Saudumme Strategie

Was soll da ein Bürgerlicher tun, der Intelligenz und Realitätssinn genug hat, um zu wissen, dass es, beispielsweise, keine gute Strategie ist, die Staatsschulden zu reduzieren, indem man das Nationaleinkommen vermindert, wie das all die Sparprogramme tun, die jetzt aufgelegt werden? Der, exakt gesagt, weiß, dass das sogar eine saudumme Strategie ist? Oder der ahnt, dass das frivole Anwachsen der Ungleichheiten Gesellschaften nicht "leistungsfähiger" macht, wie das unsere Propagandisten von "Leistung muss sich lohnen" immer behauptet haben, sondern von innen heraus verrotten lässt?

Der muss dann feststellen, dass all das, was bisher als Common Sense im seinem Milieu galt, gar nicht wahr ist: beispielsweise dass im bürgerlichen Lager die "ökonomische Vernunft" und "fiskalische Verantwortlichkeit" daheim ist. Denn er muss auch feststellen, dass ein interventionistischer Wohlfahrtsstaat, der materielle Ungleichheiten mäßigt und Lebenschancen gerecht verteilt, der dafür sorgt, dass alle aus ihrem Leben und ihren Talenten etwas machen können, nicht nur unter Gerechtigkeitsaspekten von Vorteil ist, sondern dass er auch ökonomisch einem "The winner takes it all"-Kapitalismus überlegen ist. Und er wird auch erkennen, dass der Kapitalismus drauf und dran ist, sich selbst zu zerstören, wenn man ihm nicht klare Regeln setzt und ihn so organisiert, dass er allen Bürgern ein Leben in Wohlstand garantiert. Kurzum, er muss feststellen, dass all das richtig ist, was heute im Grunde nur mehr von jenen gemäßigten Linken vertreten wird, die den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern die Marktwirtschaft erst funktionsfähig machen wollen.

Ein solcher Bürgerlicher, der sagt, "ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat", der wird vielleicht nicht gleich zum "Linken". Man kann die Bedeutung eines solchen demonstrativen Akts dennoch kaum überschätzen. Denn er zieht eine Grenze zu den Fantasten und verantwortungslosen Ideologien in seinem Milieu. Er wird zu einer Art "Neo-Linken", also zu einem Konservativen, der von der Realität überfallen wurde. (Robert Misik, DER STANDARD, Printausgabe,
18.8.2011)