Das Erwachen der israelischen Jugend

Kundgebungen mit Zehntausenden oder gar Hunderttausenden von Teilnehmern sind in Israel an und für sich noch keine Sensation. Bei den großen Demonstrationen ging es bisher immer um Nahost- und Sicherheitspolitik: Man forderte etwa Kompromisse mit den Palästinensern oder den Rücktritt der politischen und militärischen Führung, die 2006 den Libanonkrieg schlecht gemanagt hatte.

Die Zeltproteste, die vor fünf Wochen begonnen haben, sind ein Ausbruch aus der Demo-Routine. Losgetreten wurden sie von jungen Leuten: von Studenten und berufstätigen Paaren, die die Wuchermieten in Tel Aviv nicht mehr bezahlen konnten oder wollten. Mit den Gitarren-Sitins und den Solidaritätsauftritten von Popstars haben die Demos für "soziale Gerechtigkeit" auch den Charakter eines Sommerfests.

Doch die Forderungen nach Gratis-Babyhorten, Milchpreiskontrolle oder Privatisierungsstopp sind bunt gemischt und gehen quer durch die Altersklassen. Manche sehen in den Protesten eine Art Erwachen der israelischen Jugend: Das politische Bewusstsein dreht sich plötzlich nicht mehr um idealistische Positionen im Palästinenserkonflikt, sondern um den eigenen Anspruch auf einen westlichen Lebensstandard, auf "Normalität".

Empörte Einheit gegen Madrids Establishment

Nein, sie vertreten uns nicht!" ist einer der Protestrufe abertausender spanischer "Empörter" (span. "indignados"). Eine "verlorene Generation", die sich von den ihrer Ansicht nach wirtschaftshörigen Großparteien, seien es Sozialisten oder die Volkspartei, nebst der Gesamtheit der etablierten Kräfte, auch ihrer Zukunft beraubt sieht.

César Corrochano (29) ist einer von ihnen. Er steht vor dem Abschluss seines Architekturstudiums in Madrid und lebt wie die Mehrheit seiner Altersgenossen noch im Elternhaus. Mit seinem prekären "Gehalt" für den Uni-Halbtagsjob à 470 Euro ist selbst ein WG-Zimmer (ab 350 Euro aufwärts) illusorisch. Sozialversichert ist er nicht, und das Bewerben hat er nach zig Absagen satt: "Entweder ich wechsle mein Berufsfeld, oder ich wandere aus", sagt Corrochano. Von der Politik ist er enttäuscht: "Egal wen man wählt, es verändert sich nichts."

So manches, was seit dem 15. Mai auf "Volksversammlungen" der Indignados auf Plätzen landesweit debattiert wird, steht nun auf der Agenda der Politik. Wie der Schutz der vor Enteignung stehenden Hypothekenkunden, eine Kleinparteien stärkende Wahlrechtsreform oder ein Transparenzgesetz wider die Polit-Korruption sind umgesetzt oder in Vorbereitung. 

Proteste in Paris wegen beruflicher Aussichtslosigkeit

In Frankreich liegt der jüngste Jugend-Protest nur wenige Monate zurück. Ende Mai gingen bis zu tausend junge Franzosen auf die Straße, genauer: auf die Place de la Bastille, wo vor über 200 Jahren schon einmal ein Aufstand begonnen hatte - die Französische Revolution. Inspiriert von den Protesten in Spanien demonstrierten auch Frankreichs Jugendliche gegen Korruption, wirtschaftliche Prekarität und berufliche Aussichtslosigkeit, die immer mehr junge Menschen trifft. Die Quote der arbeitslosen Jugendlichen liegt in Frankreich bei 23 Prozent, viele Schulabgänger stehen auf verlorenem Posten.

Diese schwierige Situation motivierte auch viele junge Franzosen, bei den Protesten gegen die Rentenreform im Herbst ganz vorne mitzumarschieren. Als "ungerecht" empfanden sie vor allem die Erhöhung des Renteneinstiegsalters von 60 auf 62 Jahre, denn wenn alte Menschen künftig noch später in den Ruhestand gingen, komme die junge Generation noch schwerer zum Zug.

Dass die Jugend ihren Unmut öffentlich kundtut, ist in Frankreich nichts Neues. Ohnehin herrscht dort eine andere Protestkultur als hierzulande. So ist jeder Franzose überzeugt, dass er - wenn er die Schnauze voll hat - dem auch lautstark Ausdruck verleihen darf.

Frustrierte Jugend in London geht mit Gewalt shoppen

Schiere Kriminalität, Verantwortungslosigkeit, Gier, sagen die einen. Von Armut, dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, gesellschaftlicher Isolation reden die anderen. Die Debatte über die Ursachen der Krawalle überwiegend junger Leute in England ist in vollem Gang. Der konservative Premier David Cameron spricht vom "in Zeitlupe ablaufenden moralischen Niedergang des Landes". Der Finanz-Crash, die Affäre um die Spesen von Unterhaus-Abgeordneten, der Abhör-Skandal bei News of the World haben die Autorität einst respektabler Institutionen wie Parlament und Polizei untergraben.

Zwar begann der Gewaltexzess in dem überwiegend von Schwarzen bewohnten Londoner Armenviertel Tottenham. Unter den mittlerweile mehr als 1400 gerichts-notorischen Krawall-Machern finden sich neben jungen schwarzen Männern auch viele Weiße, Kinder und Frauen. Je nach Standpunkt wird mehr die Verwahrlosung der Straftäter oder die Verantwortung der Gesellschaft betont. Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen: Was sich in England austobte, waren Frust und nackter Materialismus. In der Hauptstadt des Turbokapitalismus feiert man noch immer Geld und Konsum als allein seligmachende Ideologie. Die arme Jugend ging "shopping with violence".

Londoner Zustände sind in Berlin nicht sehr wahrscheinlich

Brennende Autos, eingeschlagene Scheiben, randalierende Jugendliche - das gibt es auch in Berlin. Allerdings nur einmal im Jahr, nämlich am 1. Mai. Die Mai-Krawalle in Berlin-Kreuzberg, meist von jungen Autonomen angezettelt, gehören zum Ritual im Jahresablauf. Sie sind jedoch in den vergangenen Jahren dank vieler engagierter Bürger, die friedlich dagegen protestierten, immer weniger geworden.

Zwar gibt es auch in den deutschen Großstädten viele soziale Brennpunkte. Aber dort sind auch viele Sozialarbeiter und Jugendpädagogen aktiv. Selbst der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der immer wieder Integrationsprobleme von Migranten aufgreift, sagt: "Berlin ist nicht London."

Die Serie von Brandanschlägen auf Autos in Berlin hat mit Jugendgewalt, wie sie in England sichtbar wurde, wenig zu tun. Die Polizei meint, dass diese auf das Konto von Einzelpersonen in der autonomen Szene gehen.

Demonstrierende Jugendliche sah man in den vergangenen Monaten vor allem in Stuttgart beim Protest gegen den neuen unterirdischen Bahnhof "Stuttgart 21". Doch die Auflehnung dagegen ist nicht allein Sache der Jugend. Junge Menschen stehen dort Seite an Seite mit dem in die Jahre gekommenen Bürgertum. (Ben Segenreich aus Tel Aviv, Jan Marot aus Madrid, Sylvie Stephan aus Paris, Sebastian Borger aus London, Birgit Baumann aus Berlin, DER STANDARD; Printausgabe, 19.8.2011)