Warum hat der keine Wanderstöcke dabei? Mit seinen sechzig plus? Auf seiner Wanderrunde im Wald ober Mödling? Glaubt er, ist gelenkig wie in der Knabenzeit? Glaubt er, schadet mir nicht, seinem linken Knie, wenn er stürzt im Wald? Ausrutscht auf Föhrennadeln, stolpert über Wurzeln und Kalksteinadern?

Mein Herr rutscht jetzt tatsächlich, fast am Ende der Wanderrunde, aus hinterm Schwarzen Turm, stolpert vorm Kobenzlweg. Ist ihm in der Knabenzeit auch passiert, schadete mir damals nicht, seinem linken Knie, da war er gelenkig, doch jetzt, mit seinen sechzig plus, sitzt er ungelenk X-beinig da, ich einwärts verdreht.

Rappelt sich auf, steht schwankend, ich steche ihn an der Innenseite, vielleicht ist ein Band überdehnt. Humpelt den Kobenzlweg hinunter, dann mühsam die steilen Stufen abwärts zur Kirche. Ist hier am Ende der Wanderrunde, aber noch nicht zu Hause, obwohl er früher oft drin war: Muss noch durch die Stadt zum Bahnhof, von dort mit der S-Bahn nach Wien.

Warum geht er trotzdem zum Eingangstor? Will er hinein? War seit der Knabenzeit nicht mehr drin in der Othmarkirche, ging lieber vorbei, wenn er aus Wien kam, mit vierzig plus, fünfzig plus, zur Wanderrunde im Wald ober Mödling. Hatte Gründe dafür, geht aber trotzdem zum Eingang, warum?

Muss ich fürchten, sein linkes Knie, dass er drin eine Kniebeuge macht wie ein Frommer? Oder sich vorn am Hochaltar hinkniet, auf die steinernen Stufen, wie als Ministrant in der Knabenzeit? Oder gar hinten am Beichtstuhl hinkniet, auf die hölzerne Kniebank, wie ein Sünder, ebenfalls in der Knabenzeit? Hoffentlich nicht, weil mein Herr, nicht mehr so gelenkig mit seinen sechzig plus, ist heute ausgerutscht hinterm Schwarzen Turm, gestolpert vorm Kobenzlweg.

Jetzt geht er wirklich hinein, zum Glück ohne Kniebeuge, zum Glück nicht zum Hochaltar oder zum Beichtstuhl, geht gleich zur nächsten Kirchenbank. Muss ich fürchten, sein linkes Knie, dass er sich dort hinkniet? Auf die unten montierte Kniebank? Hoffentlich nicht, weil ich steche ihn an der Innenseite, vielleicht ist ein Band überdehnt.

Er zwängt sich in die letzte Reihe, setzt sich zum Glück auf die Sitzbank, kniet sich nicht auf die unten montierte Kniebank, will also nur eine Pause machen, mich entlasten, sein linkes Knie, bevor er weiter muss durch die Stadt zum Bahnhof, von dort mit der S-Bahn nach Wien.

Wir sind alleine im Kirchenschiff auf dem Hügel über der Stadt, es liegt, hörte er in der Knabenzeit, hier wie die gestrandete biblische Arche. Und Noah, ihren Erbauer, sieht man gleich ober unserer Bank, auf den unteren Teil einer barocken Fahne gemalt: ausgerutscht, gestolpert, hingefallen wie heute mein Herr.

Das Bild auf der Fahne des Mödlinger Winzervereins, hörte er in der Knabenzeit, illustriert eine Bibelstelle: Laut Genesis, Kapitel 9, Vers 20-23, sei Noah, erster Weinbauer nach der Sintflut, betrunken hingefallen, dann freilich nicht X-beinig dagesessen wie heute mein Herr, sein linkes Knie einwärts verdreht, sondern einfach am Erdboden eingeschlafen, seine Knie unbeschädigt, jedoch entblößt vom hochgerutschten Gewand.

Auf der Fahne sind nur Noahs Knie nackt zu sehen, laut Genesis ging seine Blöße noch weiter, bis hinauf zu jenem männlichen Körperteilchen, das selten nackt in Kirchen gemalt wird und wenn, dann klein und gekrümmt.

Auf den oberen Teil der barocken Fahne ist der hl. Othmar gemalt: Ein Abt aus dem Mittelalter, hörte mein Herr in der Knabenzeit, der Noah, den Mödlinger Winzern insofern nahesteht, als er mit Weinfass gemalt ist, der Legende nach wurde es niemals leer. Der Kirchenpatron lächelt, vielleicht vom Wein, steht aber aufrecht, nicht hingefallen wie der im unteren Teil gemalte Noah, vielleicht dank des Hirtenstabs, den er dabei hat, die Knie selbstverständlich bedeckt.

Wir sind alleine im Kirchenschiff, mein Herr macht eine Pause, will mich entlasten, dauert mir fast schon zu lang. Mir wäre lieber, steht bald wieder auf in der letzten Reihe, auch wenn ich ihn steche an der Innenseite, müssen ja noch durch die Stadt zum Bahnhof, von dort mit der S-Bahn nach Wien.

Denn weiß ich, was wäre, wenn plötzlich wieder, vorn bei der Sakristei, das Glöckchen erklingt wie in der Knabenzeit? Am Hochaltar eine Messe beginnt? Ob er sich nicht doch wieder hinkniet als Ministrant? Auf die zwar durch Teppiche gedämpften, für mich heute dennoch zu harten steinernen Stufen?

Oder was wäre, wenn plötzlich wieder, hinten beim Beichtstuhl, das Lämpchen angeht wie in der Knabenzeit? Sich hinterm Gitter ein Priester bereit macht? Ob er sich nicht doch wieder hinkniet wie ein Sünder? Auf die durch dünnen Filz kaum gedämpfte, für mich schon damals zu harte hölzerne Kniebank?

Ich hoffe, steht bald wieder auf, sitzt nicht mehr lang unter der Fahne, frage mich auch, versuche mich zu erinnern: Warum hat es meinem Herrn nicht gereicht in der Knabenzeit, sich vorn hinzuknien, wo es wenigstens Teppiche gab? Warum musste er sich auch hinten hinknien, wo doch nur dünner Filz lag?

Hatte vermutlich mit jenem männlichen Körperteilchen zu tun, das selten nackt in Kirchen gemalt wird und wenn, dann klein und gekrümmt: Dieses Körperteilchen war bei meinem Herrn bis zur Knabenzeit auch meistens klein und gekrümmt, um dann plötzlich - ich war ja dabei, sein linkes Knie, nur eine Oberschenkellänge entfernt - mehrmals täglich und ohne äußeren Anlass nicht mehr klein und gekrümmt zu sein.

Dass sich Derartiges ereignen konnte, hatte er in der Knabenzeit nie gehört; dass es ihm Lust bereitete, hinzugreifen, die Hand dort zu lassen, fand er selber heraus; dass er der einzige Mödlinger, ja der Einzige auf der Welt war, der das genoss, glaubte er wohl eine Zeitlang; dass er im Gegenteil eine weitverbreitete Sünde beging, eine Todsünde gar, mit Hölle bedroht, falls nicht bereut und gebeichtet, hörte er bald in der Schule; dass er hinten am Beichtstuhl gekniet ist wie ein Sünder, war vermutlich die Folge, obwohl das Knien auf der hölzernen Kniebank, durch dünnen Filz kaum gedämpft, für mich schon damals zu hart war.

Mein Herr steht jetzt endlich auf in der letzten Reihe, zwängt sich aus der Kirchenbank, zum Glück ohne Kniebeuge wie ein Frommer. Schaut kurz hinauf zur barocken Fahne, zu Noah, auch ausgerutscht, gestolpert, hingefallen, zum hl. Othmar, lächelnd und aufrecht mit Hirtenstab, nicht zum Hochaltar, nicht zum Beichtstuhl, humpelt zum Ausgang.

Ich steche ihn an der Innenseite, trotzdem müssen wir noch durch die Stadt zum Bahnhof, mit der S-Bahn nach Wien. Der steile Weg den Hügel hinunter, auf dem das Kirchenschiff liegt, durch die Pfarrgasse also, dauert länger als sonst. Unten am Heurigen, wo mein Herr sonst gern eine Pause macht nach der Wanderrunde, danach lächelnd wie Othmar herauskommt, humpelt er heute vorbei. Der ebene Weg Richtung Bahnhof, vorbei an Pestsäule, Beethovenhaus und Museum, dauert ebenfalls länger als sonst, und er setzt sich sogar noch einmal hin, auf dem Mölkerplatz, wo neuerdings Bänke stehen.

Eine letzte Pause, mich zu entlasten? Oder weil er in der Knabenzeit in der Gasse dahinter gewohnt hat? Schaut aber gar nicht zur Mölkergasse, sondern zur Tanzschule gegenüber, da ging er im zweiten Jahr Oberstufe des Knabengymnasiums gerne hin, um Schülerinnen des ersten Jahrs Oberstufe des Mädchengymnasiums anzutreffen. Schadete mir damals nicht, seinem linken Knie, wenn er mit ihnen Tanzschritte machte und Sprünge, da war er gelenkig; und wenn auch meistens das andere Knie in die Mitte dieser Begegnungen vordrang, bekam ich natürlich mit, war ja nur eine Oberschenkellänge entfernt: Hier war endlich auch ein äußerer, vielleicht der natürlichste Anlass, nicht mehr klein und gekrümmt zu sein. Mein Herr sitzt auf dem Mölkerplatz, macht eine Pause, dauert mir fast schon zu lang. Mir wäre lieber, steht bald wieder auf von der Bank, auch wenn ich ihn steche an der Innenseite, müssen ja noch zum Bahnhof, von dort mit der S-Bahn nach Wien.

Denn weiß ich, was wäre, wenn plötzlich in der Tanzschule gegenüber ein Kurs für Senioren beginnt? Muss ich fürchten, geht hinein, macht wieder Tanzschritte, Sprünge mit seinen sechzig plus? Hoffentlich nicht, ist heute doch ausgerutscht im Wald ober Mödling, vielleicht ist ein Band überdehnt.

Steht jetzt auf, geht zum Glück geradeaus weiter, biegt auch nicht rechts zur Keimgasse ab, wo sein Gymnasium steht, er in der Knabenzeit vieles hörte, vieles aber auch nicht. Humpelt oben die Hauptstraße weiter, dann mühsam die steilen Stufen von der Brücke hinunter zum Bahnsteig, ich steche ihn an der Innenseite.

Hoffe, kauft mir, seinem linken Knie, in Wien eine stützende Kniebandage und hat bei der nächsten Wanderrunde Wanderstöcke dabei oder wenigstens einen Hirtenstab, mit seinen sechzig plus! (Reinhard Wegerth, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 20./21. August 2011)