Der liberale Katholizismus, der seit dem zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) die Kirche in Österreich und Deutschland geprägt hat wie keine andere innerkirchliche Denkströmung, ist weltweit vom Aussterben bedroht.

Die post-konziliare Generation setzte große Hoffnungen in die Versprechen des liberalen Katholizismus. Sie wollte "frischen Wind" in die Kirche bringen. Sie wollte die Kirche mit der modernen Gesellschaft "versöhnen". Sie wollte die Kirche für die Jugend wieder "attraktiv" machen.

In Pfarrgemeinderäten, in den Medien und unter Theologen erfreut sich der liberale Katholizismus weiterhin großer Beliebtheit. Der Kampfbegriff lautet "Reform". In der Form von Pamphleten und Dialogprozessen wird dabei über Zölibat, den Zugang von Frauen zum Priesteramt, die kirchliche Sexuallehre und über den Vatikan geklagt.

Die Schuld für den Niedergang der Kirche wird gerne der "Restaurationspolitik" von Papst Johannes Paul II und Papst Benedikt XVI in die Schuhe geschoben, welche angeblich gegen den oft beschworenen "Geist des Konzils" gehandelt hätten. Dieses Argument hilft, Selbstkritik vorzubeugen.

Es kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dynamischsten und aktivsten Gruppierungen der katholischen Kirche, wie sie beim Weltjugendtag in Madrid zahlreich vertreten waren, begeisterte Anhänger beider Päpste sind und keine Probleme haben, ihre katholische Identität zu betonen.

Wichtige katholische Identitätsmarker beinhalten eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus, eine Wertschätzung für den Heiligen Vater und das katholische Lehramt, ein aktives Mitfeiern der Sakramente, eine Verbundenheit mit der weltweiten Gemeinschaft der Kirche und eine Begeisterung für die Muttergottes und die Heiligen.

In Anspielung auf die weltweite erfolgreiche Expansion von evangelikalen Gruppierungen mit ihrer selbstbewussten Identität und aktiven Missionspolitik sprechen renommierte Vatikanbeobachter wie John L. Allen von einer "Evangelikalisierung" der katholischen Kirche.

Der liberale Katholik tut sich schwer mit der Betonung dieser Identitätsmarker. Im Lehramt sieht der liberale Katholik keine Stütze und Inspiration, sondern ein Unterdrückungsinstrument gegen den autonomen kritischen Geist. Er zieht es vor, persönliche Fragen und Zweifel in laute Reformrufe zu verpacken, anstatt sie mit seinem Gewissen und seinem Beichtvater heimlich und leise zu verhandeln.

Die großen Errungenschaften des liberalen Katholizismus liegen in der Betonung der individuellen Freiheit und des individuellen Gewissens, in der Solidarität mit der Dritten Welt, sowie im Dialog mit Andersgläubigen und jenen, die sich schwer tun mit Glauben oder der kirchlichen Morallehre.

Freiheit, Gewissen und Solidarität sind wichtig. Aber sie eignen sich nur in geringem Maße, um junge Menschen für die Sache Jesu und die Gemeinschaft der Kirche zu begeistern.

Wo Jesus nur am Rande von Dialogprozessen und Freizeitveranstaltungen vorkommt, lässt sich der Glaube nur schwer verbreiten. Der Ruf nach Reform erstickt dann leicht den Imperativ der Mission.

In Madrid haben sich eine Million Jugendliche versammelt, um mit dem Heiligen Vater Jesus nachzufolgen und die weltweite Gemeinschaft der Kirche hautnah zu erleben. Sie genießen es dort, "einfach katholisch" zu sein, mit all ihren Hoffnungen und Fragen, ohne jeglichen Rechtfertigungsdruck.

Die post-konziliare Generation hat rebelliert, um den Katholizismus zu liberalisieren. Die jüngere Kirchengeneration, vor allem außerhalb Europas, wird evangelikaler. Sie zieht es vor, den Liberalismus der Kirchenkritiker zu hinterfragen, anstatt den Katholizismus zu liberalisieren. (Leser-Kommentar, Alexander Stummvoll, derStandard.at, 25.8.2011)