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Saif al-Islams Überraschungsauftritt vor dem Rixos-Hotel in Libyen.

Foto: EPA/AL ARABIYA

derStandard.at: Am Montag wurde Gaddafis Ende bereits herbeigeschrieben, am Dienstag halten die Kämpfe um Tripolis immer noch an. Wie lang kann sich Gaddafi seiner Entmachtung noch widersetzen? Oder: Kann es ihm noch gelingen, das Ruder wieder herumzureißen?

Bitar: Das Gaddafi die Oberhand zurückgewinnen und die Situation wieder kontrollieren kann, bezweifle ich stark. Das ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil die Nato-Kräfte und die Rebellen anscheinend beschlossen haben, alles zu tun was notwendig ist, um Gaddafi zu entfernen. Außerdem haben Gaddafis Verbündete in ganz Libyen eine Serie von Niederlagen erlitten, von denen sie sich nicht so schnell erholen werden. Gaddafi ist im Großteil des Landes extrem unpopulär, von den meisten Libyern wird er sogar gehasst. Jetzt, da sich die Menschen in Tripolis nicht länger fürchten, werden ihn wahrscheinlich auch seine letzten Verbündeten fallen lassen.

Natürlich sollten wir Gaddafis "Störpotenzial" nicht unterschätzen. Er könnte imstande sein, sich noch einige Tage einzubunkern und eine "Verbrannte Erde"-Politik anstreben. Er hat das Land in den letzten 42 Jahren regiert, er kontrolliert immer noch einzelne kleine Widerstandsnester und er würde lieber Libyen im Chaos versinken sehen als in den Händen seiner Rivalen. Aber auch wenn es jetzt noch zu Verzögerungen und Rückschlägen kommt, das Kapitel "Gaddafi" ist definitv abgeschlossen. Die Luft ist raus.

derStandard.at: Welche Rolle soll und wird die Nato noch spielen? Unbestätigten Berichten zufolge fliegt die Nato ja weiter Angriffe.

Bitar: Gerade jetzt, (23. August, 14 Uhr) dringt Rauch aus Gaddafis Residenz, aber niemand kann verlässlich sagen, was die Ursache ist. Auf jeden Fall spielt die Nato bei diesem Rebellensieg eine aktive und prominente Rolle. Ohne sie wäre dieser Sieg nie gelungen. In der nachträglichen Betrachtung werden sicher Fragen über die Legitimität des Nato-Einsatzes aufkommen und ob das Mandat, das der Nato durch die UN Resolution 1793 übertragen wurde, nicht überschritten wurde (Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung, Anm.). Aber heute wollen erst mal alle, dass die Ära Gaddafi endlich abgeschlossen wird und dass man sich der Zukunft zuwenden kann. Sogar diejenigen in Libyen und der arabischen Welt, die der Nato-Intervention sehr reserviert gegenüber standen.

Wenn Gaddafi erst mal vollständig besiegt ist, wird die Nato Druck auf die Rebellen ausüben, um zu vermeiden, dass Selbstjustiz und Rache an den Wegbegleitern Gaddafis geübt wird. Vor ein paar Wochen hat Human Rights Watch die Rebellen ja etlicher Gewaltverbrechen bezichtigt. Hoffen wir, dass sie ihre Lektion inzwischen gelernt haben.

derStandard.at: Was denken Sie über die kolportierte Festnahme von Saif al-Gaddafi, der ja nur wenige Stunden später als freier Mann vor die Presse trat?

Bitar: Ich habe zu diesem Thema keinerlei Insider-Informationen. Also kann ich auch nicht sagen, ob er entkommen ist oder nie festgenommen wurde. Ich denke wir befinden uns mitten in einem intensiven Propagandakrieg. Das Ziel der Nato und der Rebellen war es vermutlich, den Eindruck zu vermitteln, das Spiel für das Gaddafi-Regime sei vorbei und der gefürchtete Gaddafi-Clan ausgeschaltet. Das hätte Leute in Tripolis ermutigt, endgültig die Seiten zu wechseln. Aber zum jetzigen Zeitpunkt können wir darüber nur spekulieren. Was tatsächlich passiert ist, werden wir vielleicht in ein paar Wochen wissen.

Was die bombastische Rede Saif al-Islam Gaddafis vor den Journalisten betrifft: wir müssen sehen, dass er der gleiche Angeber wie sein Vater ist und Provokation und Übertreibung liebt. Das heißt nicht zwingend, dass er tatsächlich Herr der Lage ist. Im Gegenteil: er steht mit dem Rücken zur Wand.

derStandard.at: Denken Sie, dass die Nato und der Westen auf Friedenstruppen für die Übergangsphase drängen wird?

Bitar: Die Entsendung von Friedenstruppen setzt ein UN-Mandat voraus und damit eine neue UN-Resolution. Es wird nicht leicht sein, einen Konsens innerhalb der UNO dafür zu erreichen. Die Russen und die Chinesen sind immer noch verstimmt, weil sie die Resolution 1973 für unangemessen hielten und dass der Westen kein Recht hatte, sich in diesen Bürgerkrieg einzumischen. Wichtig ist es, auch in der Übergangsphase Zivilisten zu schützen. Die große Unbekannte derzeit ist, inwiefern der Nationale Übergangsrat tatsächlich Kontrolle über die Kämpfer hat. Werden alle Rebellen genug Disziplin zeigen und von Racheaktionen Abstand nehmen? Es ist Teil der Verantwortung der Nato, auf die Rebellen einzuwirken und solche Dinge zu verhindern. (mhe, derStandard.at/23.8.2011)