Salzburg - Vorwegnahme der Ausgesetztheit des modernen Individuums, Abgründe der Seele - was liest - und schreibt - man nicht alles über Franz Schuberts Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller, über die "Winterreise". Bariton Simon Keenlyside, der anstelle des erkrankten Thomas Quasthoff im Großen Festspielhaus bei den Salzburger Festspielen gesungen hat, scheint sich dem Schubert-Zyklus indes zunächst einmal ganz über die Technik zu nähern.

An der Wortdeutlichkeit des englischen Sängers könnten sich viele Muttersprachler seiner Zunft dabei ein Beispiel nehmen. Selten ein einzelner Vokal, der "fremd" abgedunkelt oder zu lang betont wird. Das Wort "Wolke" im Lied Nr. 12 (Einsamkeit) ist auch ihm nicht gänzlich gelungen, aber "Walke" hat er keine draus gemacht. Ein Gestaltungselement sind für Simon Keenlyside bewusst voneinander abgesetzte leicht akzentuierte Worte oder Silben in der jeweils letzten Liedphrase, oft der Wiederholung: Das dient ebenfalls der Wortdeutlichkeit, gibt vor allem aber den Aussagen einen zusätzlichen Touch von Endgültigkeit und Ausweglosigkeit. Erschütterung ganz nebenbei.

Perfekter Registerausgleich

Hohe oder tiefe Lage, verhauchendes Piano oder expressives Forte: Simon Keenlyside gestaltet seine Töne von einem einzigen Stimmsitz aus, mit perfektem Register- und Vokalausgleich über alle Lagen. Ein Beispiel dazu wären die Sprünge im Lied Nr. 17 (Im Dorfe). Das verstärkt zusätzlich die Sogwirkung der reich timbrierten Baritonstimme.

So hoch kann ein Ton gar nicht liegen, dass Keenlyside gezwungen wäre, ihn von unten anzusteuern. Auch der höchste Ton einer ohnehin hohen Phrase - etwa "ward mancher Kopf zum Greise" im Lied Nr. 14 - wird spielerisch leicht von oben aufgesetzt. Faszinierend. Dazu kommt aber auch ein ganz eigener Zugang zu vielen Liedern: ein so duftig schwebendes Irrlicht, eine so sanfte "Krähe" (Lied Nr. 15) haben noch selten versucht, den Sänger auf Abwege zu locken oder seinen Leib "als Beute hier zu fassen".

Begleitet wurde Keenlyside von Pierre-Laurent Aimard, der diese Gesangssternstunde ungemein bereicherte: Aimards Gestaltung war klangfarben- und obertonreich, ganz dem Sänger dienend und doch öffnete sie einen ganz eigenen Kosmos.

Vom "greisen Kopf" war schon die Rede: Aimard schien mit dem liegengelassenen höchsten Ton unter der Phrase "Der Reif hat einen weißen Schein mir übers Haar gestreuet" das Eis sichtbar zu machen. Und am Ende des Liedes Nr. 20 (Der Wegweiser) schien mit dem Ziel auf Erden auch jede Farbe aus dem Klavierklang gewichen zu sein.
 (Heidemarie Klabacher/DER STANDARD, Printausgabe, 24. 8. 2011)