Politiker agieren oft zwischen dem, was sie für richtig halten, und dem, was sich in der Realität umsetzen lässt - zwischen Moral und Möglichkeit. Aber manchmal lassen sie das Richtige einfach deshalb bleiben, weil es nicht opportun ist. 

Beim kleinen Glücksspiel steckt die Wiener Stadtregierung tief in diesem Dilemma. Die Grünen sind grundsätzlich gegen die Spielautomaten, die jedes Jahr tausende Menschen, meist aus bescheidenden Verhältnissen, in finanzielle Nöte stürzen. Und auch in der Wiener SPÖ hat ein Aufstand der Basis beim letzten Parteitag das Totalverbot zur Parteilinie gemacht.

Doch dieser Beschluss ist nicht so leicht umsetzbar. Denn vergangenes Jahr hat der Bund, unter reger Beteiligung der Glücksspielindustrie, ein neues Gesetz verabschiedet, das etwas anderes vorsieht - nämlich die Aufstellung einer gewissen Zahl von Spielautomaten, sogenannten VLTs, unter Bundeslizenz. Eine spielautomatenfreie Stadt ist unter diesem Gesetz nicht vorgesehen.
So weit die Realität, die der Moral - und den Parteibeschlüssen - im Wege steht. Aber Wien kann immer noch auf die weitaus größere Zahl von Automaten unter Landeslizenz verzichten. Die rot-grüne Regierung hat außerdem die Möglichkeit, durch eine breite Diskussion über die Folgen der Spielsucht so viel öffentlichen Druck zu erzeugen, dass der Bund - also auch die Bundes-SPÖ - letztlich einlenken muss. So hat Lotterien-Vorstand Friedrich Stickler bereits angekündigt, man werde gegen den Willen der Stadt auch keine VLTs aufstellen.

Doch nicht nur die Rechtslage lässt die Wiener Stadtregierung an Automaten festhalten. Da sind die 55 Millionen Euro, die Finanzstadträtin Renate Brauner durch das kleine Glücksspiel einnimmt. Da ist wohl auch der Einfluss von Novomatic, dem mächtigen Marktführer bei Spielautomaten. Und da ist vor allem die Befürchtung, dass ein völliges Verbot das Glücksspiel in die Illegalität drängen würde. Dann würden kriminelle Banden und nicht der Staat die "Deppensteuer" kassieren.

Das Hauptproblem der weitverbreiteten Spielautomaten im Wirtshaus nebenan ist, dass sie die Hemmschwelle so niedrig ansetzen und deshalb die Spielsucht besonders fördern. Die neuen Spielsalons, die der Wiener Entwurf nun vorsieht, wären gegenüber den Einzelgeräten ein Fortschritt: Auch wenn dort höhere Einsätze erlaubt sind, lockt das große Glück dann nicht mehr an jeder Ecke. Außerdem kann in solchen Hallen Spielsüchtigen der Zugang viel leichter verwehrt werden.
Für die Umsetzung des Entwurfs spricht außerdem, dass ganz offensichtlich die Nachfrage nach dem kleinen Glücksspiel existiert und dass es grundsätzlich nicht dem Staat obliegt, Vergnügungen zu verbieten, mit denen man anderen nicht schadet.

Doch das Gesetz zwingt auch Autofahrer zum Angurten und verbietet ihnen den Konsum von Suchtgift. Die Spielsucht hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der größten sozialen Übel entwickelt, dem Politiker mit Gewissen nicht einfach tatenlos zusehen dürfen. Der SPÖ-Parteibeschluss mag zwar rechtlich nicht bindend sein, aber moralisch ist der Auftrag eindeutig. Ein automatenfreies Wien wäre ein Erfolg, auf den Rot-Grün stolz sein könnte und den sich die Stadt auch leisten kann. Den Mut, öffentlich "Wir wollen das nicht" zu sagen, könnte man von Bürgermeister Michael Häupl schon erwarten. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.8.2011)