Idris I., der erste und einzige König von Libyen.

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Der Osten Libyens ist „islamischer" als der Westen, und ebenfalls im Osten hat der Gedanke an die libysche Monarchie - und ihre mögliche Restauration - überlebt. Beides, Islam und Monarchie, gehört in der libyschen Geschichte zusammen: König Idris, der 1969 von Muammar al-Gaddafi gestürzt wurde, war gleichzeitig Oberhaupt der Sanusiya, eines mystischen Ordens. Oder eher umgekehrt: Als Ordensoberhaupt der Sanusiya wurde Idris libyscher König. Die Sanusiya ist ein Sufi-Orden, der anders als andere Sufi-Orden die islamische Religion nicht transzendiert (und dabei manchmal gegen das festgelegte Recht verstößt). Die Sanusiya strebt nicht die mystische Vereinigung mit Gott an, sondern sieht sich als Vermittlerin zwischen Mystik und dem islamischen Recht.

Der 2009 tragisch ums Leben gekommene Islamwissenschafter Johannes Reissner zieht in einem Aufsatz in „Der Islam in der Gegenwart" (Ende/Steinbach 1991) Parallelen zwischen Saudi-Arabien und Libyen insofern, als in beiden Ländern eine religiös-politische Bewegung - in Saudi-Arabien handelt es sich dabei um die Wahhabiya - bei der Staatsgründung die entscheidende Rolle spielte. Beides sind auch puritanische Bewegungen, die sich auf die frühe islamische Gemeinde beziehen, und beiden, so Reissner, „gelang es in den Regionen ihrer Wirksamkeit dank ihrer religiösen Autorität Stammesfehden beizulegen und zur Sesshaftwerdung der Nomaden beizutragen". So wurden Bewegungen, die eigentlich nur im Dienste der Umma, die islamischen Gemeinschaft, stehen wollen, paradoxerweise Stifter von Nationalstaaten.

Begründet wurde die Sanusiya von Muhammad ibn Ali al-Sanusi* (gestorben 1859). Sanusi stammte aus Nordafrika und war Schüler von Ahmad ibn Idris, dem Gründer des Sufi-Ordens der Ahmadiya (Achtung: nicht mit der 1889 auf dem indischen Subkontinent von Mirza Ghulam Ahmad gegründeten Bewegung Ahmadiya zu verwechseln!). Nach dessen Tod gründete Sanusi 1837 bei Mekka die erste Siedlung seines eigenen Ordens, eine Zawiya (wie auch die umkämpfte libysche Stadt bei Tripolis heißt). Weil er nur wenig Zulauf hatte, kehrte er nach Nordafrika zurück und etablierte dort seine erste Ordenssiedlerkommune in Baida in der Cyrenaika, im heutigen Ostlibyen.

Viele weitere Zawiya-Gründungen folgten, die aber nicht nur religiöse Zentren waren, sondern gleichzeitig Vorposten zur Erschließung des Landes auch im Landesinneren, der Integration der Beduinen und nicht zuletzt der militärischen Präsenz, die Ende des 19. Jahrhundert zur Errichtung eines Sanusi-Reichs in der Cyrenaika führte. Die Oberhoheit des osmanischen Sultans (und Kalifen) in der Region wurde jedoch respektiert - und in dessen Namen nach der italienischen Besetzung 1911 auch der Freiheitskampf geführt.

Der Kampf ging natürlich auch nach dem Ende des Osmanischen Reichs weiter, wirklich bezwingen konnten die Italiener die Cyrenaika erst nach der Verhaftung und Hinrichtung des legendären Umar al-Mukhtar. Die Zawiyas waren dabei die Stützpunkte der Rebellen, wurden von den Italienern angegriffen und zerstört - und der Sanusiya als national-religiöse Bewegung dadurch wiederum Nachdruck verliehen.

Nach dem Ende der italienischen Kolonialherrschaft (Schlacht von El Alamein 1943) übernahmen die Briten die Kontrolle, bis Libyen 1951 seine Unabhängigkeit erhielt. Und der Enkel des Ordensgründers, Muhammad Idris al-Mahdi al-Sanusi, wurde als Idris I. König von Libyen. Einen direkten Nachfahren hatte der in seinen Ehen eher glücklose Idris, der 1983 im Exil in Kairo starb, nicht. Mohammed al-Sanusi, ein Sohn des letzten, umstrittenen Kronprinzen (er war ein Neffe des Königs), ist heute der offizielle Thronfolger. In einem Interview mit der Zeit sprach er zwar vor kurzem von einer möglichen Rückkehr nach Libyen, aber überzeugt klang er selbst nicht. Er wurde 1962 geboren und verließ mit seinem Vater Libyen - wo die Familie von Gaddafi gedemütigt und drangsaliert wurde - 1988.

Was an der Sanusiya interessant ist - und warum ihr viele trotz ihrer ursprünglichen Strenge großes Entwicklungspotenzial zusprechen - ist, dass sie anders als der Mainstream-Islam auf das Recht auf eigene Interpretation der islamischen Rechtsquellen, Koran und Überlieferungen (Sunna), pocht: der Ijtihad. Und das ist ja auch eine Forderung moderner islamischen Strömungen. Der „Taqlid" - die blinde Übernahme von bereits existierenden Rechtsmeinungen - ist in diesen Schulen geradezu verpönt. In der libyschen Monarchie war der Islam zwar Staatsreligion, seine Gültigkeit blieb aber im Wesentlichen auf das Familienrecht beschränkt, das heißt Libyen war ein sehr islamisch geprägter, aber kein islamischer Staat in politischem Sinn.

Darum setzten die modernen Islamisten - trotz der religiösen Legitimation des Königshauses - ja auf die Gaddafi-Revolution 1969 große Hoffnungen. Der kreierte dann zwar einen Staat mit viel strengeren islamischen Regeln (auch die Körperstrafen wurden wieder eingeführt), machte mit dem Islam aber eigentlich, was er wollte - einmal verstieg er sich sogar, den Koran verändert zu zitieren. Er hatte bald von Saudi-Arabien über die Orthodoxie in Al-Azhar bis zu den Islamisten alle gegen sich. Fortsetzung folgt. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 26.8.2011)

*Es gibt verschiedene gängige Transkriptionsweisen aus dem Arabischen: Sanussi, Senussi. Das Doppel-s soll anzeigen, dass das s im Wortinneren nicht stimmhaft ausgesprochen wird. Aber in der österreichischen Umgangssprache ist das ohnehin nicht der Fall ...