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Eine Marienerscheinung hat der Protagonist in Glavinics neuem Buch nicht, es bleibt ihm nur der Kauf einer Gipsmadonna. Unser Bild zeigt einen Verkaufsstand in Medjugorje.

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Die Hölle sind immer die anderen: Thomas Glavinic.

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Da sitzt ein Ich-Erzähler "in einem nicht mehr ganz neuen Reisebus, der mich und die anderen Pilger von Wien nach Medjugorje bringen wird, wo täglich die Muttergottes erscheint, an die ich leider nicht glaube." Für einen atheistischen Undercover-Schriftsteller - und seinen Fotografen Ingo - ist das die Vorhölle, auch wenn er sich davon offenkundig inspirieren lassen möchte.

Ansonsten wimmelt der Bus nur so von Typen: Da ist zum Beispiel der "Kapuzenmann", der rustikale "Postangestellte" (der in Wirklichkeit ein Computermensch ist), ein "Liliputaner mit einem Silberkreuz um den Hals", ein sexsüchtiger Tennislehrer und "Intschu-Tschuna", der den Indianerspitznamen seiner blauschwarzen Haarfarbe verdankt. Alle sind, was sie scheinen, und ihnen gemeinsam ist ihr Ziel - oder ihre Berufung?

Der Bus und mit ihm das neue Buch Thomas Glavinics fahren nämlich quasi gemeinsam zu Europas größtem 'illegalem' Wallfahrtsort in Bosnien-Herzegowina, dessen Marienerscheinungen vom Vatikan bis heute nicht anerkannt sind. Hier weitet sich das literarische Roadmovie der Pilgerfahrt zum Hadesgang: Medjugorje erweist sich als gefängnishafte Gehirnwaschanlage, wo die beiden Protagonisten fundamentalistischer Propaganda ausgeliefert sind. Die Hölle sind erwartungsgemäß immer die anderen, was fast zwangsläufig zu Alkohol-, Nikotin- und Tablettenmissbrauch führt.

Die Madonna, die hier "Gospa" heißt, zeigt sich indes nicht. Dem Protagonisten bleiben nur ihre fotokopierten Botschaften, und er kauft "natürlich sofort diese Gipsgospa, und einen besonders schwulen Jesus" nimmt er "auch noch dazu": "Der Typ an der Kasse gibt mir einen frommen Wunsch mit auf den Weg. Ich nicke ihm zu und mache, dass ich wegkomme, die Atmosphäre auf dem Gelände deprimiert mich zunehmend."

Damit ist das Ende der Fahnenstange aber noch lange nicht erreicht: Der Ich-Erzähler erkrankt an "der Mutter aller Anginas" und lässt sich von seinem Vater mit dem Mercedes nach Split evakuieren, bevor Ingo auch noch durchdrehen kann. Der gewählte Zufluchtsort an der Adriaküste gerät schnell zu einem weiteren Höllenkreis: die beiden Österreicher werden der Partylaune des Vaterfreundes Ivica und seiner kroatischen Gangsterfreunde zum Fraß vorgeworfen, widerstehen mannhaft allen Bunga-Bunga-Angeboten, erschießen im Suff die Ziege des Nachbarn und türmen schließlich durch die Hintertür.

Glavinics Text gebärdet sich damit als realistisches Hybrid zwischen Autobiografie und Fiktion, zwischen Reportage und Roman, wie sich dies schon in früheren Büchern des Autors angekündigt hatte. Die Mischung hier ist freilich wenig segensreich, ähnlich wie der besagte Pilgerbus aus der österreichischen Provinz, in dem Dosenbier, Würsteln und Stereotypen gefrönt wird.

Billig sind nicht nur die Balkanklischees, die aufgewärmt werden, und die reichlich schmucklose Sprache. Billig ist auch, den kleinen Wahn der Pilger und Pülcher einfach nur zu bashen - anstatt die interessantere Frage nach dem Dahinter zu stellen (und wenn, dann nur schablonenhaft, wie beim Tennislehrer, der als Provinz-Don-Juan auf Entzug geht). Glavinic weicht jeder Erklärung aus, was denn genau jene Sehnsucht nach spiritueller Stallwärme ausmacht, der Orte wie Medjugorje ihre Strahlkraft (bzw. eine Million Besucher jährlich) verdanken.

Abgesehen von seiner gewollt rotzig-coolen Billigästhetik hat der Text aber auch die Chance versäumt, die wirklich süffigen Historien hinter Medjugorje zu erzählen - also die misslungenen Gonzo-Allüren à la Hunter S. Thompson (oder eher Michael Jeannée?) ein wenig mit der literarisch genauen Recherchearbeit eines (z. B.) Martin Pollak oder Karl-Markus Gauß zu kombinieren.

Neben der kruden Vorgeschichte der Erscheinungen selbst, zu der diverse Verschwörungstheorien kursieren (der Dorfpfarrer - oder der jugoslawische Geheimdienst - hätten alles 1981 erfunden, um den Tourismus im adriatischen Hinterland anzukurbeln) sind da vor allem etwa die beiden Kriegsvergangenheiten rund um Medjugorje: die Massaker an andersgläubigen Zivilisten, ausgeführt von kroatischen Milizen 1941 und 1992. Das Grundstück der Franziskaner, das als Testgelände für Granatwerfer genutzt wurde. Der erscheinungskritische Bischof Periæ, der 1995 von Freischärlern entführt und verprügelt wurde. Mafiöse Verteilungskämpfe rund um die Wallfahrt. Und, und, und.

Das sind die wahren Geschichten hinter dem Wallfahrtsort, die die Jungfrau Maria und ihre Friedensbotschaften als eine Art kollektiver Traumaverarbeitung in einem ehemaligen Kriegsgebiet erscheinen lassen. In diese Schicht zu bohren wäre wohl produktiver gewesen als ein paar Modernisierungsverlierer aus Wien und der Steiermark zu verarschen, die auf der Suche nach Lebensinhalt vom Reisebüro vermittelt worden sind.

Zumindest ist der Ich-Erzähler am Schluss ehrlich, wenn er einräumen muss, dass er das erlebt, was man a) "ganz banal als eine Midlife-Crisis bezeichnet" und b) "die Sehnsucht nach dem Göttlichen, das mich nicht allei-ne lässt, und genau das wird mir hier bewusst: die Existenz einer stillen Übereinkunft mit mir selbst, dass ich nicht alle Türen zugeschlagen habe." Ob das (literarisch) reicht? (Clemens Ruthner*, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 20./21. August 2011)