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Der Chef des renommierten Instituts für Weltwirtschaft in Kiel über die Notwendigkeit nationaler Schuldenkommissionen, warum jedes Euro-Land fiskalpolitisch eigenständig sein sollte, der Euroraum aber für viel mehr als nur Wirtschaft steht.

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Standard: Halten Sie die Euro- und Wirtschaftskrise für lösbar?

Dennis Snower: Die Krise ist leicht lösbar, wenn wir nur ein wenig politischen Willen hätten. Jedes Land, das Anspruch auf den Euro-Rettungsschirm haben will, sollte zwei Bedingungen erfüllen. Die erste ist, dass die Regierung eine Fiskalregel formuliert, die besagt, wo die langfristige Schuldenquote sein soll, wie schnell man sie angehen soll, und wie antizyklisch die Fiskalpolitik zu sein hat. Zweitens: Dann übergibt sie diese Regel einer unabhängigen Kommission.

Standard: Sie haben das einmal Schuldenkommission genannt.

Snower: Ja, diese unabhängige Schuldenkommission gibt der Regierung vor, wie hoch das Defizit im Land sein kann, und wie hoch die Überschüsse. So behielte die Regierung die Fiskalhoheit, und sie könnte glaubhaft signalisieren, dass sie sich langfristig über die Schulden des Landes Gedanken macht, und nicht nur Jahr für Jahr.

Standard: Ist nicht das Problem der Euro-Partner, die Hilfsgelder etwa an Griechenland geben, dass sie von der nationalen Regierung in Athen lange angeschwindelt wurden? Daher die von EU, Zentralbank, Internationalem Währungsfonds erstellten Sanierungspläne.

Snower: Ich bin dafür, dass ein Land eigenständig seine Fiskalregeln entwirft.

Standard: Die griechische Regierung hat daran ja mitgearbeitet.

Snower: Aber wo, es wurde ihnen aufgehalst. Der springende Punkt ist: es ist zu kurzfristig, es wird jetzt gespart. Nach meiner Fiskalregel hätten die Griechen zwanzig Jahre Zeit.

Standard: Musste die Eurozone nicht so handeln, um die Märkte zu beruhigen?

Snower: Nein, muss sie nicht. Die Glaubwürdigkeit hängt von den Institutionen ab, die man baut. Wenn sie Regierungen haben, die sich nicht verpflichten, dann besteht überhaupt keine Glaubwürdigkeit. Als wir die Europäische Zentralbank geschaffen haben, hat sie sehr rasch eine hohe Glaubwürdigkeit erlangt. Warum? Weil sie unabhängig war. Eine Schuldenkommission müsste so konstruiert sein, dass sie nur mit einer 75-Prozent-Mehrheit wieder abgeschafft werden kann.

Standard: Wer soll in einer Schuldenkommission sitzen?

Snower: Aus Erfahrungen wissen wir, dass sie vor allen unabhängig sein müssen, um die notwendigen Zielvorgaben zu implementieren. Es müssen Personen drinnen sitzen, die imstande sind, den Wirtschaftszyklus eines Landes gut zu schätzen, es können das langweilige Econometriker sein.

Standard: Gibt es nicht schon zu viele Institutionen, die in der Eurozone mitreden?

Snower: Das wäre keine zusätzliche Institution. Das Problem der Schuldenkrise ist analog zur Bekämpfung der Inflationskrise in den 1970er- und 1980er-Jahren. Regierungen sind nicht imstande, eine glaubwürdige Geldpolitik zu betreiben. Daher haben wir unabhängige Zentralbanken geschaffen. Nun ist meine These: Regierungen können auch keine glaubhafte Schuldenpolitik machen.

Standard: Also halten sie die Lösung in erster Linie für eine politische Frage?

Snower: Ja, sie ist so leicht lösbar. Wir haben ja Erfahrungen mit Zentralbanken, wie man Glaubwürdigkeit rasch herstellen kann. Wenn wir Fiskalregeln erarbeiten, die von Schuldenkommissionen garantiert werden, würden die Finanzmärkte sofort sehen, dass sich ein Land sehr wohl binden kann an einen langfristigen Plan. Griechenland zum Beispiel könnte jetzt die Wirtschaft stimulieren, um schneller aus der Krise rauszukommen, als das, was es jetzt macht. Es sollte dem Land 20 Jahre Zeit gegeben werden, um auf die 60 Prozent Schuldenquote zu kommen. Die Finanzmärkte würden das sofort sehen, die Zinsen würden fallen.

Standard: Die EU-Kommission kann das nicht leisten?

Snower: Sollte das die EU-Kommission machen, sind die Länder entmachtet, wie die angeschlagenen Länder es jetzt schon sind. Das sollte nicht geschehen, denn ich stelle mir nicht vor, dass innerhalb Europas der Wille besteht, eine Fiskalunion einzugehen.

Standard: Derzeit ist viel von einer EU-Wirtschaftsregierung die Rede, wie sehen Sie das?

Snower: Wir müssen uns eine ganz einfache Frage stellen: Besteht unter den Europäern der politische Wille, dass es innerhalb der Europäischen Union langfristig erweiterte Transfers von einem Land in ein anderes Land gibt? Einfach, um Schuldenprobleme zu lösen, in der Einsicht, dass wir alle Europäer sind. Konkret, sind die Deutschen willig, Jahr für Jahr Geld nach Griechenland zu zahlen, sodass die Griechen ihre Schulden begleichen können, unabhängig von einem Strukturplan, nach dem sich die Wirtschaft langfristig saniert?

Standard: Haben Sie Zweifel daran?

Snower: Was heißt Zweifel, ich würde sagen mit absoluter Sicherheit sind die deutschen Wähler nicht willig, das langfristig so zu machen. Und ich würde auch sagen, dass alle Gläubigerländer nicht willig wären, das zu tun. Daher haben wir gar keine andere Wahl als dafür zu sorgen, dass jeder Staat selbst fiskalpolitisch verantwortungsvoll handelt.

Standard: Wie sehen sie vor diesem Hintergrund die Debatte über die Schaffung einer politischen Union in Europa?

Snower: Ich bin fest davon überzeugt, dass die Wähler das nicht wollen, und ich bin fest davon überzeugt, dass die Politiker das auch wissen, und daher durchschauen, dass diese Vorschläge zu nichts führen werden. Man will, dass sich die Lage beruhigt. Die politische Diskussion ist kurzlebig, und das lenkt ab.

Standard: Aber man hat eben vor zehn Jahren die Währungsunion geschaffen, die ohne politische Union nicht wirklich zu funktionieren scheint, jetzt steckt man offenbar fest, es geht weder vor noch zurück. Wie soll man da rauskommen?

Snower: Ja, wir stecken in der Krise, die muss gelöst werden. Das andere ist ein illusorisches Problem. Wir müssen nicht in eine politische Union eintreten, weil wir eine ökonomische Krise haben. Wir müssen nur einen Implementierungsmechanismus schaffen, damit die Regeln eingehalten werden. Es gibt einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, der gewisse Schuldenquoten vorgibt, aber wir haben keinen Umsetzungsmechanismus. Mein Vorschlag wäre, dass man diesen Mechanismus schafft. Wenn der einmal auf nationaler Ebene geschaffen ist, dass würde jeden Land seine Fiskalhoheit bewahren, und wir wären aus der Krise.

Standard: Haben wir es derzeit mit einer Vertrauenskrise der Regierungen untereinander zu tun?

Snower: Ja, und zurecht. Regierungen können zukünftige Regierungen zu nichts verpflichten. Und daher sollte man etwas Analoges zur Geldpolitik schaffen, einen unabhängigen Prozess, der die Defizite und Überschüsse durch die Schuldenquote regelt.

Standard: Wie sehen sie die Rolle der Europäischen Zentralbank beim Krisenmanagement? War es ein Fehler, dass sie riesige Mengen an maroden Staatsanleihen aus Griechenland, Spanien, Italien gekauft hat, anstatt sich auch Inflation und Geldpolitik zu konzentrieren, wie es in den EU-Verträgen festgelegt ist?

Snower: Ich sehe das differenzierter. Die EZB hat die Pflicht einzugreifen, wenn es Liquiditätsprobleme gibt. Das ist eine Sache der Geldpolitik und nicht der Insolvenzpolitik. Wenn es aber verbogene Institutionen gibt, dann ist die Grenze zwischen Liquiditäts- und Insolvenzproblemen nicht leicht erkennbar. Das ist aber nicht die Schuld der Zentralbank. Die EZB ist in der peinlichen Lage, wo sie weiß, dass es riesige finanzielle Ansteckungsgefahren in Europa gibt, aber die Fiskalpolitik nicht funktioniert, sie also als einzige Institution dasteht, die Europa vor einer solchen Ansteckungsgefahr bewahren kann. Man interpretiert den Zusammenhang von Liquiditäts- und Insolvenzpolitik etwas anders.

Standard: War das politische Eingreifen, der kauf von Staatsanleihen durch die EZB, ein Sündenfall?

Snower: Wir müssen in Zukunft gewährleisten, dass die Grenzen zwischen der Geldpolitik durch die EZB und der Insolvenzpolitik auf der anderen Seite klar unterschieden werden.

Standard: Was würde passieren, wenn die EZB sagen würde, wir kaufen keine Staatsanleihen mehr?

Snower: Dann würde es in diesem Land einen Default, eine Insolvenz geben. Dann steigen die Zinsen, und es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es auch in anderen Ländern einen Default gibt. Dann müsste man damit rechnen, dass mehrere Länder insolvent sind.

Standard: Anleihen in Österreich oder Deutschland wären dann vermutlich umso gefragter.

Snower: Da würde ich mir nicht so sicher sein. Je mehr Länder in die Insolvenz kommen, desto größer wären die Verwicklungen, die Turbulenzen in ganz Europa. Die Verwerfungen würden ganz Europa betreffen.

Standard: Halten sie es für möglich, dass der Euroraum sich in den kommenden Jahren auflöst?

Snower: Ich halte das normativ für unmöglich. Der Euroraum ist viel wichtiger als nur das Wirtschaftliche. Er ist nicht geschaffen worden, um nur wirtschaftliche Kooperation zu schaffen. Aus Europa sind zwei Weltkriege entstanden. Dann kam man zum Schluss Ende des Zweiten Weltkriegs, wir wollen Europa zu einem Raum machen, in dem Frieden herrscht. Durch wirtschaftliche Entwicklung kann man das vorantreiben, aber eine politische Harmonie ist unbedingt gewollt. Das ist auch in wichtigem Maß geschehen innerhalb Europas. Wenn nun auf der wirtschaftlichen Seite etwas sehr Wichtiges zusammenbräche, würde das auch politische Folgen haben. Wir sollten daran also nicht rütteln.

Standard: Wäre der Preis zu hoch?

Snower: Europa würde daran nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und sozial enorm leiden. In der globalisierten Weltwirtschaft kommt es darauf an, wie man sich aufstellt. Auch die Möglichkeit, Talent zu mobilisieren, hängt zum Teil von Größe ab. Wenn Europa zersplitert, kann das nicht im Interesse von Staaten sein.

Standard: Euro-kritische Parteien, insbesondere die extreme Rechte, spricht sich für die Auflösung der Währungsunion aus. In Österreich verlangen FPÖ und BZÖ die Schaffung einer nordeuropäischen Eurozone rund um Deutschland. Die Idee gewinnt zunehmend an Boden bzw. Wählerzuspruch, was denken Sie darüber?

Snower: Ganz einfach. Eine solche Forderung basiert auf einem unfassbaren Unwissen, auf einer bodenlosen Dummheit, die einfach die Zusammenhänge nicht begreift. Stellen wir uns vor, die Griechen werden ausgeschlossen. Stellen sie sich vor, sie sind Grieche, und vermuten, dass das geschehen wird, und ihre Lebensersparnisse werden in Zukunft in Drachmen verwandelt zu einem ungünstigen Wechselkurs. Was würden sie tun?

Standard: Mein Geld sofort ins Euro-Ausland transferieren.

Snower: Genau. Das macht ihnen jeder nach, sodass das griechische Bankensystem zunächst einmal kollabiert, bumm, weg. Und jetzt sind sie Portugiese, und sehen sich in derselben Lage. So geht das weiter, bumm, bumm, bumm, mehr und mehr Systeme brechen zusammen. Weil wir so vernetzt sind in Europa, durch Firmen, Banken, verbreitet sich der Schaden in allen Ländern. Was bleibt dann übrig?

Standard: Die Rechten glauben offenbar: starke Nationalstaaten, ein erstarktes Deutschland im Zentrum, das die übrigen dominiert.

Snower: Das ist verrückt, Deutschland wäre geschwächt. Einen Scherbenhaufen zu dominieren ist keine gute Perspektive. Europa würde vermutlich auch politisch auseinanderfallen. Wünscht man sich, dass Deutschland einen solchen Raum dominiert, wenn es keine politischen und wirtschaftlichen Instrumente gibt, die für eine Verbindung sorgen?

Standard: Ich wünsche es mir nicht. Aber es gibt offenbar eine zunehmende Zahl von Leuten, in Deutschland, in Österreich, in den Niederlanden, die damit spielen. Auch Leute ihrer Zunft, renommierte Wirtschaftswissenschaftler, die damit erfolgreich von Talkshow zu Talkshow pilgern, wie ihr Kollege Hans-Werner Sinn zum Beispiel.

Snower: Mir ist das total unverständlich. Denn der politische Preis ist klar. Aber wir haben eine offene Gesellschaft, in der jeder sagen kann, was er will.

Standard: Kann es sein, dass bei Debatten über die Krise zu viel über wirtschaftliche Fragen, aber viel zu wenig über die politischen Folgen geredet wird? Müsste nicht viel mehr über Europa debattiert werden?

Snower: Ich glaube nicht, dass das durch die Politik geschehen wird, sondern nur durch die Medien. Die Medien transportieren das meiste Gedankengut, das politisch relevant ist. Die Politik hat oft sehr kurzfristige Ziele, man will die nächste Woche überstehen. Sie wird zum Teil von den Wählern getrieben. Die Wähler haben Vorurteile, und man tritt oft nicht in einen Diskurs mit ihnen ein, in dem man die Konsequenzen durchdekliniert. Gerade weil es nicht nur wirtschaftlich kriselt, sondern auch sozialpolitisch, wollen viele diese Diskussion nicht aufflammen lassen. Es würde eine sehr starke und zuversichtlich handelnde Politik brauchen, um so einen Diskurs austragen zu können, echte Führungskapazität. Politiker können nur überleben, wenn sie wiedergewählt werden, diese Schicksal können sehr schnell auf und wieder abgebaut werden. Daher glaube ich, dass diese Diskussion über die Medien laufen muss. Aber auch dort ist es schwierig, eine langfristige Perspektive zu haben. Wir sollten viel mehr Diskussionen haben, jetzt ist sogar ein guter Zeitpunkt, weil sich sehr viele Menschen Gedanken über die Zukunft machen.

Standard: Muss man den führenden Politikern in Europa aber nicht doch auch zugute halten, dass sie in der Krise in den vergangenen zwei Jahren auch Systemverbesserungen durchgeführt haben, Stichworte: Es gibt jetzt neue europaweite Kontrollinstanzen für den Banken- und Finanzmarkt, beim Handel von Aktien und Versicherungen. Oder die Regierungschefs treffen sich nun viel öfter, in einer Art von ständigem EU-Ministerrat auf höchster Ebene, wie es das bis 2009 nicht gegeben hat. Es gibt einen Euro-Rettungsfonds, der Staaten vor der Pleite bewahrt hat. Man versucht sich besser zu koordinieren. Wie beurteilen Sie das?

Snower: Sie haben einerseits vollkommen Recht, aber gleichzeitig ist das auch ein pessimistischer Befund. Der Weg, den wir jetzt gehen, der führt wahrscheinlich zu einer Fiskalunion, die von den Wählern nicht gewollt ist. Man wird Wege finden, um fiskalpolitisch verantwortungslosen Ländern Geld zu geben, nur damit auf den Finanzmärkten Ruhe ist, ohne dass das jemand sieht.

Standard: Was ja ein fundamentales demokratiepolitisches Problem darstellt.

Snower: Wir umgehen derzeit die Demokratie, aber Europa kann viel aushalten. Die Systeme sind so kompliziert, dass niemand sie versteht. Das hat zur Folge, dass viele Wähler ein Demokratieproblem sehen, sie sind einfach ausgekoppelt worden aus diesem Prozess. Da geschieht ein neuer gewaltiger Schritt in diese Richtung, und das ist nicht gut für den sozialen Zusammenhalt. Es geht in die falsche Richtung, aber es führt zu einer De-facto-Fiskalunion. Man muss sich diese Konstrukte wie den Ständigen Euro-Krisenmechanismus anschauen, den ESM. Das ist eine Methode, Ländern Geld zur Verfügung zu stellen, das unter undurchsichtigen Bedingungen, was Sicherheiten betrifft. Bedingungen, die sich am Ende vielleicht doch als nicht sicher entpuppen, aber es ist nicht sichergestellt worden, wie das Geld zurück zu den Gläubigern kommt. Man schafft Institutionen, die nicht gewährleisten, dass man das Geld wieder zurückbekommt, und das ist die Essenz einer Fiskalunion: Man bekommt sein Geld nicht zurück. Es wird auf so vielen Umwegen gemacht, dass es niemand mehr versteht. Langfristig ist das fatal, denn es fehlt dann der soziale Zusammenhalt. (Thomas Mayer, DER STANDARD; Volltext zur Print-Ausgabe, 27.8.2011)