Psota wünscht sich einen wertschätzenden Umgang mit Demenzkranken: "Es gibt tolle Situationen, man kann auch gemeinsam lachen."

Foto: STANDARD/Corn

Psychiater übt Gesellschaftskritik: "Alle wollen ewig jung bleiben. Wir werden aber alt und irgendwann auch sterben. So ein Skandal."

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"Einige Angehörige müssen sich schon sehr verausgaben: noch mehr emotional als finanziell", sagt Georg Psota. Der Chefarzt des Psychosozialen Dienstes in Wien rät pflegenden Angehörigen trotzdem zu Geduld und Wertschätzung – und zu möglichst viel Wissen über die Krankheit Demenz.

derStandard.at: Herr Psota, Sie plädieren für einen offenen Umgang der Gesellschaft mit Demenz. Das heißt, der fehlt Ihnen noch?

Psota: : Ja. Man kann einen Demenzkranken natürlich 20, 40 oder 80 Mal am Tag korrigieren und sagen "Hast schon wieder vergessen". Dann wird er zurecht irgendwann einmal gereizt sein. In einem Menschen mit Demenz kann man aber sehr viel Liebenswertes entdecken. Ich habe viele tolle Situationen mit Demenzkranken erlebt.

derStandard.at: Was kann man lernen?

Psota: : Man kann gemeinsam lachen, man kann das Leben ein bisschen weniger tragisch nehmen. Es wird einem selber die Endlichkeit mehr bewusst. Wir leben ja in einer Gesellschaft, wo alle scheinbar unendlich leben. Und wenn wir 80 sind, lassen wir uns fünfmal operieren und schauen wir wieder aus wie 50. Alzheimer ist da ein Kontrastprogramm. Es zeigt uns einiges auf. Ich wünsche mir einen wertschätzenden und liebevollen Zugang zu Demenzkranken. Davon sind wir noch relativ weit weg.

derStandard.at: Eine Gesellschaft, in der jeder jung und vital sein will, verdrängt ein Thema wie Demenz also gerne, weil es die eigene Lebenshaltung in Bedrängnis brächte?

Psota: : Ja. Es herrscht dieses Gefühl, wir würden ewig leben und ewig jung bleiben. Wir vertreten noch immer die Auffassung: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wir sind nicht so stark, wie wir glauben. Noch dazu werden wir von anderen Menschen abhängig. Wir werden alt und irgendwann auch sterben. So ein Skandal. (lacht)

derStandard.at: Sie sagen, Demenz sei für Europa so bedeutend wie Aids in Afrika ...

Psota: : ... grundsätzlich stimmt das. Ich habe das gesagt, um das plakativ klarzumachen.

derStandard.at: Haben Politik und Gesellschaft das schon genügend begriffen?

Psota: : Nein. Das sage ich ganz klar. Die Politik versteht immer nur so viel, wie die Gesellschaft versteht. Das ist ein paralleler Prozess. Für mich ist immer die Gesellschaft verantwortlich. Das wäre sonst eine sehr hierarchische Vorstellung von Politik, die mich an die k.u.k.-Zeit erinnert. Die westlichen Gesellschaften sind besonders alternde, aber die Message, die da auf uns zukommt, haben wir noch nicht ausreichend verstanden.

derStandard.at: In 40 Jahren werden voraussichtlich rund 250.000 Österreicher Demenz haben. Was braucht Österreich?

Psota: : Einen Demenz-Plan.

derStandard.at: So einen gibt's noch nicht.

Psota: : Stimmt. Aber es gibt derzeit intensive Anstrengungen vom Gesundheitsministerium, von den Krankenkassen, den Sozialversicherungsträgern und der Alzheimer-Gesellschaft, einen solchen zu erarbeiten. Wenn eine Gesellschaft vor so einer großen Herausforderung steht, braucht sie nicht nur Geld und Ideen, sondern eben auch einen Plan. Die Franzosen haben so etwas, nur konnten sie ihn wegen der Wirtschaftskrise bisher nicht umsetzen. Der Plan ist aber im Grunde sehr klar. Man muss nicht jeden Plan neu erfinden, man kann ihn auch adaptieren.

derStandard.at: Was gibt der französische Demenz-Plan vor?

Psota: : Die Bevölkerung soll möglichst viel Grundwissen über Demenz haben. Der Plan sieht auch vor, dass es ein flächendeckendes Netz von Behandlungsformen durch Allgemeinmediziner, durch Fachärzte und durch Kompetenzzentren gibt. Verbände der Angehörigen sollen eingebunden werden. Und die erkrankten Menschen sollen selbstverständlich so gut wie möglich medikamentös und ebenso psychosozial behandelt werden ohne unendlich viele Hürden.

derStandard.at: Sie würden die Schwelle senken, um in Österreich an spezifische Medikamente, sogenannte Antidementiva, zu kommen?

Psota: : Ja. In Frankreich ist es schon heute so, dass die einmalige gesicherte Diagnose eine Verschreibung bis zum Lebensende ermöglicht. Es kann ja passieren, dass die Behandlung immer wieder unterbrochen oder abgebrochen wird. Das kann verschiedene Gründe haben, auch den, dass es schwierig ist, zum Medikament zu kommen.

derStandard.at: Bei Demenzkranken kommen zum Gedächtnis-Schwund oft auch psychische Leiden hinzu. Warum?

Psota: : Ich glaube ja, dass der Gedächtnis-Schwund das ist, was die anderen Menschen am wenigsten irritiert. Schlimmer sind für Angehörige oft die gravierenden Änderungen im Verhalten. Es fängt damit an, dass Demenzkranke ziemlich depressiv werden können. Oder es tauchen verschiedene Ängste auf, die dem familiären Umfeld neu sind.

derStandard.at: Wie kann man sich das vorstellen?

Psota: : Es geht dann soweit, dass auch Misstrauen entsteht. Das kann bis in echte Paranoia führen, ins Gefühl, durch die anderen beeinträchtigt zu werden. Ich finde diese Dinge nicht so fremdartig, wie wir sie oft darstellen. Wenn ich etwas verlege – das passiert mir auch heute schon -, dann kann mir auch passieren, dass ich sage, es hat jemand anderer verlegt. Derjenige, der noch nie gesagt hat, es sei ihm etwas verräumt worden, der werfe den ersten Stein. Dieser menschliche Reflex ist in der Demenz-Erkrankung noch stärker ausgeprägt, weil durch die Vergesslichkeit wirklich gar nichts mehr gefunden wird.

derStandard.at: Können Demenzkranke nicht auch bislang ungekannte Aggressionen entwickeln?

Psota: : Es geht oft nicht um Aggression, es geht sehr viel um Depression und Rückzug. Nehmen Sie ein Geburtstagsfest: Der Betroffene weiß nicht, was er reden soll. Er versteht nicht alles. Es geht ihm zu schnell, es wird unübersichtlich. Er fühlt sich halt einfach nicht wohl. Da ziehen sich gerade zu Beginn der Alzheimer-Erkrankung viele sehr zurück. Das Gereizte, Grantige bis hin zum Aggressiven kommt in der mittleren bis späten Phase.

derStandard.at: Kann es auch ein seliges Vergessen sein?

Psota: : Schon auch. Eigentlich ist es das Häufigere.

derStandard.at: Gibt es Betroffene, die selbst mit dem Verdacht zu Ihnen kommen, dass Sie an Demenz erkrankt sind?

Psota: : Man geht immer davon aus, dass alle Leute es nicht realisieren. In Frühstadien tun sie das aber gelegentlich schon. Je populärer das Thema wird, desto mehr Bereitschaft gibt es, das zu realisieren. Es gibt den 95-jährigen Patienten, der seinen Sohn anruft und sagt: "So geht das nicht weiter, ich merke mir vom Wohnzimmer in die Küche nicht, was ich mitnehmen wollte." Bei der Untersuchung stellt sich heraus, er hat wirklich Alzheimer und sagt mit 95, da müssen wir etwas tun. Das ist der Patient der Zukunft. (Lukas Kapeller, derStandard.at, 29.8.2011)