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Will keinen Traditionsbruch: "Jedermann"-Regisseur Christian Stückl mit "seinem Tod", dem Schauspieler Ben Becker.

Foto: APA/Neumayr

Standard: Am 28. August gibt es die 600. "Jedermann"-Vorstellung, Sie selbst feiern Zehn-Jahre-Jubiläum. Haben Sie noch nicht genug?

Stückl: (lacht) Ja, mein Gott. Sven-Eric Bechtolf, der neue Schauspielchef, will meine Inszenierung unbedingt noch weiter spielen. Ich habe fürs nächste Jahr zugesagt. Danach ist alles offen. Ich fände es wichtig, wenn dann wieder jemand anderer inszeniert und ich vielleicht in zehn Jahren noch einmal zurückkomme und wieder neue Facetten entdecke.

Standard: Wie bei den Oberammergauer Passionsspielen, die alle zehn Jahre stattfinden und die Sie seit 1990 inszenieren?

Stückl: Ja, da merkt man, wie die Zeit die Sicht verändert. Beim ersten Mal hab ich Jesus als Revoluzzer gesehen, zwanzig Jahre später habe ich einen ganz ruhigen Jesus-Darsteller gesucht. Ähnlich war es beim Jedermann. So gern ich mit Peter Simonischek gearbeitet habe: Es war nach acht Jahren wichtig, dass neue Schauspieler kommen, durch deren Augen ich eine neue Sicht bekommen habe auf das Stück. Ich will keinen Traditionsbruch, Tradition ist wichtig, aber sie bedeutet doch ständigen Wandel, ein Weitergehen und durch die Jahrhunderte Durchtragen, kein Festhalten. Natürlich braucht man dazu ein gewisses Maß an Respektlosigkeit. Dieser Geist der Veränderung ist wichtig.

Standard: Kann der "Jedermann", bis auf ein paar inszenatorische Kleinigkeiten, wirklich neu erzählt werden?

Stückl: Ich fand Peter Steins Idee bestrickend, Peter Handke zu fragen, ob er einen heutigen Jedermann schreiben wolle. So viel ich weiß, hat Handke abgelehnt. Ich kann das gut verstehen. Wie erzählt man heute das Stück-Ende, die Erlösung, wo jeder einen anderen Glauben hat? Irgendwann habe ich beispielsweise die Figur des Glaubens eliminiert, weil es nicht mehr ausreicht zu sagen: Ja, ich glaube. Dafür habe ich dem Teufel Platz gegeben.

Standard: Glauben Sie?

Stückl: Schwierige Frage. Ich wollte schon mit fünfzehn unbedingt die Passionsspiele machen und las ein paar Jahre später eine Kritik von Lion Feuchtwanger aus dem Jahr 1910, der sich darüber beklagte, dass es in Oberammergau immer nur um Äußerlichkeiten gehe, nie um den Kern der Geschichte. Das war für mich prägend: Ja, wir müssen uns mit der Geschichte auseinandersetzen, mit Jesus, dem Glauben. Doch je intensiver die Auseinandersetzung ist, umso mehr beginnt man zu zweifeln.

Standard: Ein gläubiger Zweifler?

Stückl: Ein Zweifler im Glauben.

Standard: "Jedermann" ist das Symbolstück der Salzburger Festspiele. Wie ging's Ihnen, als Ihnen die Regie angeboten wurde?

Stückl: Als Jürgen Flimm Schauspielchef wurde, rief er mich an und sagte, er habe eine blöde Idee, aber ich solle sie mir anhören. Im ersten Moment war ich richtig erschrocken : "Halleluja! Schon wieder ein Religionsstück!"

Standard: Ist dieses, wenn ich so sagen darf, doch etwas holprige Stück ...

Stückl: ... (lacht) Ja, des derfen S' mit Recht sagen!

Standard: ... heute überhaupt noch von Bedeutung?

Stückl: Ja, weil es sich mit Fragen beschäftigt, die uns alle angehen: mit unserem eigenen Ende, mit dem Tod. In Wirklichkeit können wir alle das gar nicht aushalten.

Standard: Sie sind seit 2002 Intendant am Münchner Volkstheater. Leiden solche Institutionen nicht an einer Definitions- und Sinnkrise?

Stückl: Ja, das tun sie, in München mehr als in Wien oder Berlin. Bei einer Umfrage der Münchner Universität meinten 94 Prozent der Befragten, es handle sich beim Volkstheater um altbackenes Mundarttheater. Ich halte diesen Begriff aus dem 19. Jahrhundert für problematisch. Damals hatte man in Bayern plötzlich Volkstrachtenvereine, Volksmusik, Volksstücke. Allem, was nicht Bildungsbürgertum oder Hof war, wurde das Etikett "Volk" verpasst. Aber wir machen alle Theater für die Leute - also für das Volk. Für den Hof jedenfalls schon lange nicht mehr. Unlängst wurde bei einer Diskussion in Salzburg festgestellt, man wünsche sich ein informiertes Publikum, eines, das seinen Schiller kennt.

Standard: Was früher der Hof war, ist jetzt das informierte Publikum?

Stückl: Genau! Das sitzt dann mit dem Reclam-Heftl im Theater, kontrolliert, ob alles gespielt wird, wie's im Büchl steht und schreit nach Werktreue. Das Volkstheater wurde einmal als Antwort auf den Hof gegründet. Man wollte weg vom Theater für die Großkopferten, hin zum Theater fürs Volk. Und heute machen wir doch nur Theater für die Leute - auch wenn sie großkopfert sind.

Standard: Sie sind auf dem Weg nach Indien. Dient dieses Kontrastprogramm auch zur Sinnsuche?

Stückl: Nein, ich reise nicht aus spirituellen Gründen nach Indien. Wobei ich immer erst dort merke, wie katholisch ich bin. Ehrlich gestanden gehen mir die Leute, die BWL studieren und dann in Indien auf dem Selbsterfahrungstrip im Ashram hocken, gehörig auf die Nerven. Ich wurde vor 15 Jahren vom Goethe-Institut eingeladen, einen Sommernachtstraum in Indien zu inszenieren. Seither fliege ich jedes Jahr hin, unterrichte, inszeniere. Bevor ich das erste Mal hingefahren bin, hat mich Dieter Dorn gefragt, was ich denn dort bitteschön wolle, das würde mich in der deutschen Theaterlandschaft nicht weiterbringen. Aber ich habe dort viel übers Theater gelernt. Man darf nicht engstirnig sein, sondern muss mit dem weiten Blick auf die Welt und auf das Theater schauen. (Andrea Schurian/DER STANDARD, Printausgabe, 29. 8. 2011)