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Auf den Minaretten von rund hundert Moscheen in Sarajevo werden Lichter angezündet.

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In der ganzen Stadt riecht es dann nach somun, einer besonderen Brotsorte, die nur im Ramadan verkauft wird.

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In kaum einer anderen europäischen Stadt leben so viele Menschen, bei denen ein Kanonenschuss derart heftige, erschütternde und konkrete Assoziationen an Blut, Tod und Schrecken auslöst wie in Sarajevo. Dennoch, der Kanonenschuss der im August allabendlich in Sarajevo abgefeuert wurde, löste bei den Bewohnern keine Angst aus. Die Rede ist nämlich von der traditionellen Ramadan-Kanone, die den Iftar, das Festenbrechen, signalisiert und somit verkündet, dass der ganztägige Verzicht auf Trinken und Essen beendet ist. Zugleich werden auf den Minaretten von rund hundert Moscheen in Sarajevo Lichter angezündet, die dasselbe Signal aussenden. In der ganzen Stadt riecht es dann nach somun, einer besonderen Brotsorte, die nur im Ramadan verkauft wird. Die Atmosphäre in der Stadt ist sehr besonders, und für Gäste aus der ganzen Welt, insbesondere jene aus dem Westen, geradezu exotisch.

Im Unterschied zum gregorianischen Kalender, der sich nach den Bewegungen der Sonne richtet, ist der islamische Kalender ein Mondkalender, und so wandert der Beginn des Ramadans jedes Jahr um zehn oder elf Tage. Wenn der Ramadan auf den Sommer fällt, sind die Fastentage länger und heißer, und die Gläubigen stehen vor einer größeren Herausforderung als sonst. Dennoch betrifft der Ramadan in Sarajevo nicht nur die Gläubigen, zumindest nicht im Bezug auf die Atmosphäre. So war es auch schon im Kommunismus. Auch Nichtmoslems bekommen den Ramadan indirekt zu spüren, und sei es nur wegen des beliebten somuns. Goran Bregović und seine Band Bijelo Dugme hatten Mitte der achtziger Jahre einen Hit mit dem folgenden Vers: "Ich habe das Gefühl, der Monat Ramadan bricht an".

Nach dem Krieg gab es jedoch die informelle Tendenz, die Bedeutung des Ramadans für Nichtmoslems gegen ihren Willen aufzubauschen. In der Öffentlichkeit hieß es dann oft, man müsse nicht unbedingt selbst fasten, aber es sei sehr problematisch, in Anwesenheit eines fastenden Gläubigen zu essen oder zu trinken, denn das würde diesen angeblich in Versuchung führen. Ebenso plädierten Menschen, die zwar das ganze Jahr über regelmäßig Alkohol konsumierten, aber im Ramadan sich des Alkohols enthielten, dafür, ein solches Verhalten insgesamt in der Öffentlichkeit zu propagieren und zu verbreiten. In den ersten Nachkriegsjahren waren derartige Bemühungen durchaus von Erfolg gekrönt, wenn auch eher in kleineren Städten in Bosnien und Herzegowina als in Sarajevo. In den letzten Jahren, und vor allem in diesem Jahr, stand der Ramadan auf der Alltagsebene jedoch ganz im Zeichen der Toleranz.

Aus der Perspektive zahlreicher Gläubiger besteht Toleranz jedoch darin, die Erwartungshaltung zu haben, dass Atheisten die Überzeugungen der Gläubigen notwendigerweise respektieren müssten und diese nicht in Frage stellen dürften, während sie, die Gläubigen, frei sein sollten, Atheisten zu kritisieren und zu beleidigen, weil ihrer Ansicht nach atheistische Überzeugungen a priori weniger wert seien. Es gab eine Zeit in Sarajevo, als religiöse Einrichtungen einen so starken Einfluss auf die Politik ausübten, dass eine solche Sichtweise der Toleranz häufig als eine naturgemäße und einzig mögliche präsentiert wurde.

Heute ist das nicht mehr so, und an manchen Abenden scheint es, als wäre Sarajevo wirklich eine tolerante Stadt. Womit jene Toleranz gemeint ist, die auch vor dem Krieg von Dichtern besungen wurde: Also nicht eine Toleranz der Koexistenz unterschiedlicher Glaubensrichtungen, denn das ist eine nur scheinbare Toleranz, sondern eine solche Toleranz, die es möglich macht, dass mitten im Ramadan, buchstäblich im Schatten der Gazi-Husrev-Beg-Moschee, in einer engen Gasse alte Männer mit religiöser Kopfbedeckung und Teenager mit Bierflaschen in der Hand aneinander vorbeigehen. Die echte Toleranz bedingt auch, dass auf der Ferhadije-Promenade verschleierte Frauen einerseits und Mädchen mit sonnengebräunten Beinen in Mini-Röcken und Shorts, mit tief ausgeschnittenem Dekolletés oder Spaghettiträgern andererseits nebeneinander hergehen.

Die Ramadan-Atmosphäre ist in Sarajevo ganz spezifisch, und diese Einzigartigkeitist heuer besonders spürbar. In diesem August gibt es viele Touristen auf den Straßen Sarajevos, die sichtlich in dieser Atmosphäre schwelgen. Wenn der Kanonenschuss ertönt, erheben sie den Blick gen Himmel, ohne Angst, dafür mit einer freudigen Neugierde, als würden sie wissen, dass ihnen nichts passieren kann - oder nur Gutes.