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Samstag, früher Vormittag, Upper East Side, Madison Avenue: Auf der Evakuierungskarte des Bürgermeisters ist dieser Teil der Stadt nicht als von Überflutung gefährdet markiert. Doch 16 Stunden bevor der Sturm die Stadt erreichen soll, ist die Straße schon ziemlich leer. Einige Taxis und Privatautos, wenige Fußgänger, doch offenkundig eine große Freude für die Jogger und Hundebesitzer, die endlich viel Platz haben. Ein wenig weiter südlich beobachten und fotografieren Touristen mehr als ein Dutzend Arbeiter, die die Auslagenscheiben von Bloomingdales, eines der großen Kaufhäuser, mit Sperrholzplatten verbarrikadieren. Fürchten die sich vor dem Wind oder Plünderungen nach einem weiträumigen Stromausfall? Armani und andere Nobelshops haben ihre Auslagen leergeräumt, an den Türen hängen Zettel "Wegen Wetters gesperrt. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten." Hinter manchen Eingangstüren liegen ein paar zierliche Sandsäcke. Die Arbeiter, die die Eingangstür des Apple Store verbarrikadieren, erhielten den Auftrag, die Holzplatten mit weißem Packpapier zu tapezieren - Adel verpflichtet.

An der südöstlichen Ecke des Central Parks trotten die Touristengruppen ein wenig desorientiert hinter ihren Fähnleinführern über den Platz. Die Parks werden später gesperrt und ab Mittag der öffentliche Verkehr - U-Bahn, Busse, Lokalbahnen - eingestellt. Die Stadt, die angeblich niemals schläft, kommt zum Stillstand. Bloß die Obdachlosen, von denen es diesen Sommer mehr auf den Straßen Manhattans zu sehen gibt, sitzen herum. Es hat ihnen wohl niemand gesagt, dass die Stadtverwaltung Evakuierungszentren (in Manhattan mehr als ein Dutzend) eingerichtet hat, die 70.000 Leute aufnehmen können. 370.000 New Yorker waren schon am Freitag zum Verlassen ihrer Wohnungen aufgefordert wurden, weil sie im Falle eines Hurrikans der Stärke 2 oder mehr mit Überflutungen ihrer Wohngegend zu rechnen haben würden. Am Freitag hatte Irene vor Florida die Stärke 2, und schon da war klar, dass der Sturm, bis er New York erreicht, schwächer sein würde.

All das scheint wie ein Manöver der vereinigten Kräfte des nach 9/11 gegründeten Ministeriums für Homeland Security, der Nationalgarden, der Gouverneure der Ostküstenstaaten und der Bürgermeister von Philadelphia, New York und kleineren Städte. Da darf auch der Präsident nicht fehlen, der in seinem Urlaubsort mit besorgter Miene eine Stellungnahme vom Blatt liest und gleich viel weniger souverän wirkt, als wenn er das mit dem sonst üblichen Teleprompter erledigt.

Weiter im Osten Manhattans, in den Wohngebieten mit den vielen kleine Geschäften, die von Asiaten betrieben werden, stehen lange Schlangen und decken sich mit Lebensmitteln ein. "Keine Taschenlampen mehr vorhanden" steht auf einem handgeschriebenen Zettel an einer der Eingangstüren; Brot ist auch schon Mangelware. Auf Twitter verkündet ein Unerschrockener, dass er gerade seinen iPod lade, sich mit ein paar Flaschen guten Weins eingedeckt habe und so den Sturm wohl gut überstehen werde. Am frühen Nachmittag verdunkelt sich der Himmel und es beginnt zu regnen, anfangs noch eher schüchtern, später dann ziemlich heftig. Doch Irene hat Verspätung: Statt Sonntag um 2 Uhr früh ist seine bzw. ihre Ankunft in New York erst für die frühen Morgenstunden zu erwarten. Ich befolge die Anweisungen meiner Vermieterin, fülle die Badewanne und alle vorhandenen Flaschen mit Wasser und mach mir einen gemütlichen Abend, gelegentlich stelle ich den Ton des Fernsehers an.

In Atlantic City wird eine Gruppe von Senioren interviewt, die sich geweigert haben, ihr Heim zu verlassen. Eine der alten Ladies verkündet: "Ich gehe nicht weg, das ist die beste Reality Show, die du dir vorstellen kannst." Ein Reporter steht im Meer, das aber sonst ganz gewöhnlich aussieht und erzählt, was alle ohnehin schon wissen. Der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg gibt seine x-te Pressekonferenz und verkündet, dass ihm gleich ist, welche Nummer der Hurrikan nun hat: "We are prepared." Er will angeblich noch mehr werden als Bürgermeister.

Sonntagmorgen: Es regnet immer noch sehr stark, der Wind rüttelt an den Fenstern, aber der Strom ist nicht ausgefallen. Beim Frühstück schaue ich fern. Die Stars von CNN, John King, Anderson Cooper & Co., stehen irgendwo im Freien, die Linsen der Kameras sind mit Regentropfen übersät, der Sturm bläst in die Mikros und sie erzählen uns, dass Irene nur noch ein tropischer Sturm sei. Im Hintergrund sieht man "storm watchers" , die ihre Regenmäntel vom Wind aufblasen lassen. In der Lower East Side sind ein paar Linden umgefallen, was angesichts der spärlichen Tiefe, die den Wurzeln zur Verfügung gestellt wurde, nicht weiter wundert.

Alle am Manöver Beteiligten belobigen sich. Eine Stadt, in der Natur nur in artifizieller Form erfahrbar ist, hat es dank der Weitsicht ihrer Verantwortlichen geschafft, den Besuch von Irene zu einem Erfolg werden zu lassen. Das Erdbeben, das Anfang der Woche auch New Yorks Wolkenkratzer zum Schwanken brachte, hätte sich halt rechtzeitig anmelden müssen, dann hätte man auch dieses in eine "We are prepared" -Show einbauen können. Bloomberg hat sich für größere Aufgaben qualifiziert. Wenn er Samstagmittag verlautbart hätte, der heraufziehende Sturm werde weniger heftig sein, als man befürchten musste, hätte er wie ein Verlierer gewirkt. Das ist das Letzte, als das ein ehrgeiziger Politiker erscheinen will. (Christian Fleck, DER STANDARD, Printausgabe, 30.8.2011)