Es ist immer knapp nach sieben, wenn Jesus auf der Mariahilfer Straße auftaucht. Denn jede Stadt hat ihren Rhythmus. Und jede Straße ihre zeitadäquate Benutzerschaft. Ich könnte in der Früh, beim Laufen, meine Uhr nach Jesus stellen. Und nach all den anderen Leuten, die um diese Zeit den Umsatzboulevard bevölkern. Bevölkern dürfen. Noch. So lange noch kein Kaufmann sie verjagt, kein edler Passant ausspuckt und kein Polizist sich überlegt, ob er nicht den in letzter Zeit angeblich wieder verstärkt exekutierten Anti-Verweilparagraphen anwenden soll: Um sieben brechen Jesus und seine Kollegen aus ihren Verstecken, den Eingängen, Lieferantentoren und Müllräumen der Kaufhäuser auf der Mariahilfer Straße, den Bänken und Schanigärten auf, um den Weg frei zu machen. Und um unsichtbar zu werden.
Schichtwechsel
Die Straße gehört ab jetzt den Produktiven, den Nützlichen, den Wertschöpfenden und den Wertvollen. Punkt sieben steht der Speditions-LKW vor dem schwedischen Textilmarkt und zwei Männer und eine Frau karren kistenweise T-Shirts und Kleider in den Shop. Die Straßenreiniger machen ihren obligaten Tschikstop beim Werbe-Mini am Gehsteig vor der Raiffeisenbank. Die Müllabfuhr ist mit den Koloniakübeln knapp vor der Neubaugasse beschäftigt. Und sechs Minuten nach sieben überquert die der Powerwalker mit dem grimmigen Gesicht und dem offenbar mit schwerem Ballast vollgepackten Tourenrucksack. Im Eilmarschtempo.
Knapp nach sieben Uhr beschleunigt die Stadt. Beginnt Tempo und Schwung für den Tag aufzubauen. Die ersten Anzug-Aktenkoffer-Wichtigesgesichtträger holen sich ihren Coffee-to-Go. Eine Frau im Businesskostüm zerrt ihr quengelndes Kind zur U-Bahn-Station und schnauzt es - jeden Tag mit den selben Worten – an, schneller zu machen. Ein paar andere Läufer nutzen die Noch-Leere des Boulevards. Dazwischen bewegen sich Jesus und seine Kollegen. So als befänden sie sich in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum. 40 Minuten später, am Weg zurück, die Mariahilfer Straße bergan, haben sie es fast geschafft. Nicht zu verschwinden. Aber unsichtbar zu werden. Kinder rennen zur Schule, die U-Bahnen spucken schwallweise Shop- und Officebelegschaften auf die Straße. M., die Segafredo-Morgenkellnerin, hat Tische und Sessel des Schanigartens gastbereit gemacht. Der Tag echte beginnt.
Durchsichtig und unsichtbar
Jesus und seine Kollegen sind immer noch da. Das Alkoholikerpärchen lehnt in der Hausecke knapp unterhalb des Steigendurchganges. Vor dem Haus Wien Energie liegt einer auf seiner Bank und will doch noch nicht aufwachen. Die Frau mit den Spitalspatschen und der Decke steht aber schon an der Ecke beim Bundesländerplatz. Vor dem Gerngross werden die ersten Tetrapacks und Bierdosen geöffnet. Aber Jesus und seine Kollegen sind bereits unsichtbar. Die Leute schauen durch das Treibgut hindurch. Jesus ist um diese Zeit schon auf Höhe der Webgasse angekommen und geht ganz langsam weiter stadtauswärts. Er trägt Camouflage. Und einen Spaten. Vielleicht sucht er ja wirklich einen Platz, an dem er sich für den Rest des Tages eingraben kann.
Nachlese
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