Die junge Aktivistin Shirin el-Araj im Gemeinschaftsraum des Dorfkomitees von al-Walaja.

Foto: Andreas Hackl

Inmitten von Mauern: Das Dorf al-Walaja.

Screenshot von OCHA oPt

Dieses kleine Haus von Abu Wajih und seiner Familie wird nach Fertigstellung der Mauer vom Dorf abgeschnitten sein ...

Foto: Andreas Hackl

... deswegen wird nur für sie um rund 400.000 Euro ein Tunnel gebaut, der ihre einzige Verbindung zur Außenwelt sein wird.

Foto: Andreas Hackl

Kaum wo ist die israelische Besatzung des Westjordanlandes so greifbar wie im palästinensischen Dorf al-Walaja. Und selten sieht man das Absurde daran so deutlich wie hier. Nur wenige Meter neben der schmalen Dorfstraße stehen die frischen Rohbauten der jüdischen Siedlung Har Gilo aufgereiht. Die Häuser sind noch nicht fertig, aber schon jetzt schirmt sie eine meterhohe Mauer vom palästinensischen Dorf und den Gefahren des Westjordanlandes ab. Während die Innenseite der Wand mit sandfarbenen Steinen verziert ist, hat man die Außenseite, die zu den Bewohnern von al-Walaja zeigt, im matten Betongrau belassen.

Das Dorf hat rund 2300 Einwohner und liegt auf einem Hügel zwischen Jerusalem und Betlehem. Unten im Tal sieht man alle paar Stunden den Zug die alte Strecke Richtung Tel Aviv entlang schleichen, die schon für die Osmanen Jerusalem mit der Küste verbunden hat.

„Ein Mikrokosmos der Besatzung"

Doch hier oben dominiert das trennende, nicht das verbindende Element. "Wir leben in einem Mikrokosmos der Besatzung, al-Walaja hat alles zu bieten", sagt die junge Palästinenserin Shirin el-Araj vom Dorfkomitee, während wir im Gemeinschaftsraum sitzen. "Wir werden hier bald völlig von der Mauer eingeschlossen sein", erklärt sie. Schon jetzt versperren ein tiefes Tal, die Siedlungen Har Gilo und eine Umfahrungsstraße für israelische Siedler den Weg in fast alle Richtungen. Doch wenn die Mauer bald vollkommen fertig gestellt ist, wird es für die Dorfbewohner nur einen einzigen Weg nach draußen geben. Und der führt nach aktuellem Plan durch ein bewachtes Eisentor. "Dann sind wir tagtäglich von dem Wohlwollen der israelischen Wachen abhängig", klagt Shirin, die während des Gesprächs immer wieder ihr Kopftuch adjustiert.

Aus israelischer Sicht scheint al-Walaja am falschen Ort zu sein. Doch Shirin gibt zu bedenken, dass die Einwohner schon länger auf diesem Flecken Land sind als die Bewohner der in den 70ern gegründeten Siedlung. Neben der Einkesselung durch die Mauer sei auch der Status der Dorfbewohner höchst prekär, sagt sie. Die Ursachen dafür liegen weit zurück.

Bevor ihre Vorfahren 1948 nach Kämpfen zwischen der jüdischen Haganah und arabischen Streitkräften geflüchtet sind, haben sie auf einem Hügel weiter im Westen gelebt. Der Großteil sei nach dem Krieg in die jordanische Hauptstadt Amman geflüchtet, während sich einige etwas weiter östlich des zerstörten Dorfes, wo das heutige al-Walaja liegt, niedergelassen haben. "Meine Großeltern glaubten damals, dass sie bald wieder zurück können", sagt Shirin. Deswegen seien sie wie andere vorübergehend in Höhlen gezogen. Doch aus der Zwischenlösung wurden viele Jahre. „Meine Mutter hatte aber bald genug. Sie wollte ein normales Leben führen. 1961 hat sie mit ihrem Mann dieses Haus gebaut", erklärt sie, und deutet auf den Boden.

Andere Familien seien noch viel länger in den Höhlen geblieben. "Und das wird ihnen heute zum Verhängnis." Denn um ihren Landbesitz vor 1967 einzufordern, müssten sie als Beweis Dokumente vorlegen. "Aber wer hat schon Dokumente für Höhlen?", sagt Shirin.

In der Mitte durchgeschnitten

Als Israel nach dem Juni-Krieg 1967 das Westjordanland und Ostjerusalem unter seine Kontrolle brachte, wurde die Verwaltungsgrenze Jerusalems um rund 76 Quadratkilometer erweitert. Al-Walaja wird seitdem von dieser Grenze in zwei Teile geschnitten. Im Sinne des 1980 verabschiedeten israelischen Grundgesetzes, nach dem Jerusalem, Ostjerusalem inklusive, die "komplette und geeinte Hauptstadt Israels" ist, liegt eine Hälfte des Dorfes in Israel, während die andere Teil des Westjordanlandes ist.

"Aber wir haben nach 1967 nicht kapiert, dass wir Teil Jerusalems sind", sagt Shirin. Anstatt der blauen Jerusalem-Ausweise, die dauerhaften Aufenthalt und freien Zugang nach Israel bewirken, haben die Bewohner von al-Walaja orange-farbige bekommen, die für Palästinenser aus dem Westjordanland bestimmt waren. Damit dürfen sie weder in Jerusalem wohnen, noch ohne spezielle Genehmigung nach Israel einreisen. "Das heißt, dass für die rund 90 Familien, deren Häuser heute auf dem Gebiet des Bezirks Jerusalem stehen, die bloße Existenz in ihrem eigenen Dorf ein illegaler Akt ist", erklärt Shirin. Denn laut ihren Ausweisen dürften sie gar nicht sein, wo sie sind.

Hinzu komme, dass ihnen über die letzten Jahrzehnte Baugenehmigungen verweigert wurden, sodass sie beinahe alle Häuser illegal gebaut haben. Immer wieder hätten die israelischen Behörden deswegen Gebäude abgerissen. "Anscheinend wollen sie unser Leben schwer machen, bis wir alle verschwinden", meint Shirin.

Ein Haus hinter der Mauer

Von ihrem Haus ausgehend fahren wir langsam durch das Dorf. Zuerst entlang der Mauer, dann den Hügel eine steile Straße hinab. "Jetzt überqueren wir die Grenze nach Jerusalem", sagt sie plötzlich, kurz bevor wir zu einem Ort kommen, der mit unglaublicher Deutlichkeit zeigt, wie bizarr die Situation für al-Walaja geworden ist. Denn ein einziges Haus wird nach Fertigstellung der Sperrmauer auf der anderen Seite liegen und so vom übrigen Dorf abgeschnitten sein. Damit die dort wohnhafte Familie nicht vollkommen isoliert wird, bauen ihnen die israelischen Behörden einen Verbindungstunnel.

Das Schicksal von al-Walaja ist auch ein Resultat der Doppelstrategie hinter der israelischen Mauer. Sie wurde zwar vorrangig gebaut, um Terroristen von israelischen Städten fern zu halten, erfüllte aber auch einen anderen Zweck: Die Erweiterung der faktischen Grenzen Israels und Jerusalems. Das erkennt man heute daran, dass die Mauer um jüdische Siedlungen außerhalb von Jerusalem herumführt, die eigentlich nicht innerhalb der Grenzen der Stadt liegen, während sie manche palästinensische Dörfer, die faktisch innerhalb von Jerusalem liegen, von der Stadt abschneidet.

Shirin el-Araj will jedenfalls nicht aufgeben, auch wenn ihr letzter Einspruch gegen den Verlauf der Mauer vom israelischen Höchstgericht abgewiesen wurde. "Sie meinten, aus Gründen der Sicherheit müsse die Route so bleiben, wie sie ist", kritisiert sie den Entscheid. (Andreas Hackl, derStandard.at, 1.9.2011)