Der Syphilis-Erreger unter einem Elektronenmikroskop.

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"Penecillin heilt Gonorrhoe in vier Stunden. Suchen Sie noch heute Ihren Arzt auf." Ein Werbeplakat in den USA aus den 1940er Jahren.

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Seit knapp 65 Jahren leidet Marta Lidia Orrellana an Syphilis. Sechs Jahrzehnte lang lebt die 74jährige nun schon mit ständigen Schmerzen, Blut im Urin, Bluthochdruck, Gelenk- und Muskelbeschwerden - typische Symptome der Geschlechtskrankheit. Im Alter von zehn Jahren wurde das guatemaltekische Waisenkind mit den Erregern infiziert. Nicht etwa durch eine Vergewaltigung oder durch einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. "Sie haben mir die Beine aufgerissen, zwei Ärzte, und mich dann innen mit ihren Händen und Fingern abgetastet. Ich habe nur geweint - ich wollte das doch nicht," erzählte Marta Journalisten der ARD Anfang August. 

1.300 Menschen infiziert - 83 Tote

Zwischen 1946 und 1948 wurden rund 1.300 Menschen in Guatemala "zu Forschungszwecken" mit den Geschlechtskrankheiten Syphilis, Gonorrhöe und Ulcus molle infiziert. Soldaten, Prostituierte, Häftlinge, geistig behinderte Menschen und sogar Waisenkinder fungierten als unfreiwillige menschliche „Versuchskaninchen". Sie wurden weder über die Infektion noch über mögliche Folgen der Experimente informiert.

Während die Welt geschockt auf die Nürnberger-Ärzteprozesse blickte und immer mehr grauenhafte Details über Experimente in NS-Konzentrationslagern bekannt wurden, spielten sich nur ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Mittelamerika ähnliche Szenen ab - unter Führung eines Ärzteteams aus den USA.

Der Leiter der wissenschaftlichen Studie, John Cutler, hatte bereits in den Jahren zuvor ähnliche Projekte an Häftlingen in den USA durchgeführt. Diese hatten sich jedoch für die Testreihe freiwillig zu Verfügung gestellt. 

In Guatemala wurde weder informiert noch um Erlaubnis gefragt. Einige ProbandInnen von damals wussten bis vor kurzem noch gar nicht, warum sie plötzlich krank geworden waren. Die 1.300 infizierten Menschen wurden in Versuchs- und Kontrollgruppen eingeteilt. Während an ca. 700 PatientInnen die Wirkung von Penicillin getestet wurde, behandelten die Ärzte um Dr. Cutler die restlichen Infizierten nicht, um die Krankheitsverläufe der beiden Gruppen vergleichen zu können.

83 Menschen starben im Zuge der Versuche, so wie zum Beispiel Berta. Auch sie wurde mit Syphilis infiziert. Als Berta im Sterben lag, beschloss man an ihr zu untersuchen, wie sich eine zweite Infektion auf den menschlichen Organismus auswirken würde. Die Ärzte infizierten die wehrlose Frau mit Syphilis an den Augen und anderen Stellen am Körper. Wenige Monate später starb sie. 

Aufzeichnungen durch Zufall entdeckt 

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse waren so gering, dass Cutler diese nicht veröffentlichte. Die Aufzeichnungen landeten in Aktenschränken der Universität Pittsburgh, wo die US-Historikerin Susan Reverby sie im Oktober 2010 fand.

US-Präsident Barack Obama entschuldigte sich umgehend, nachdem der Skandal bekannt wurde,  bei den Opfern und setzte kurz darauf eine Untersuchungskommission ein. Die ersten Ergebnisse wurden zu Beginn der Woche veröffentlicht. Die Leiterin der Kommission, Amy Gutmann, sprach von einer „historischen Ungerechtigkeit". „Die, die in die Studie verwickelt waren, haben in ihren Forschungen nicht den kleinsten Respekt vor Menschenrechten und Moral gezeigt." Die Mediziner seien „moralisch schuldig in mehrfacher Hinsicht".

Guatemalas Regierung kündigte ebenfalls eine Untersuchung an und entschuldigte sich bei den Opfern. Einheimische Medizinern hatten die US-amerikanischen Ärzte in den 40er Jahren bei ihren Experimenten unterstützt.

Einige Überlebende haben mittlerweile Klagen gegen die USA eingebracht. So wie die Waise Marat. Sie erhofft sich Hilfe und Unterstützung. Viel wichtiger ist es ihr aber, ihre Würde wieder zurück zu bekommen. "Wir haben doch auch ein Recht zu leben. Warum haben sie das mit uns gemacht? Natürlich muss man für die Wissenschaft forschen, aber so etwas kann man Menschen doch nicht antun." (elin, derStandard.at, 2. September 2011)