Berlin - Um die Reformbedürftigkeit des deutschen Wohlfahrtsstaats zu verdeutlichen, wählte der Präsident des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann, einen drastischen Vergleich: "Wir tanzen auf der Titanic, wir haben Eis in unseren Gläsern, aber der Eisberg wird noch nicht richtig wahrgenommen." Im Gespräch mit Auslandskorrespondenten in Berlin fügte er hinzu: "Es geht den Leuten noch nicht schlecht genug, um Aufruhr zu erzeugen."

Auf die Frage des STANDARD, ob er angesichts des überraschend positiven Geschäftsklimaindexes für Mai die Gefahr einer Rezession gebannt sehe, antwortete Zimmermann: "Deutschland ist in einer Phase der Stagnation, und wir sind am Rande einer Rezession. Ich sehe im Moment keine hoffnungsvollen Zeichen." Die Wachstumsprognose der Regierung von 0,75 Prozent heuer bezeichnete er als "total überzogen". Wahrscheinlicher sei eine Rate nahe null. Für nächstes Jahr rechnet er mit einem Wachstum von rund einem Prozent.

Reformen nicht ausreichend

Die Reformen von Bundeskanzler Gerhard Schröder würden erst in mehreren Jahren wirken und seien außerdem nicht ausreichend, um den Sozialstaat zu sichern. Es werde noch "mindestens fünf Jahre dauern", bis Deutschland wieder die wirtschaftliche Lokomotive in Europa sei.

Auch Weltbank-Chef James Wolfensohn forderte in einem Interview Deutschland zu Reformen auf: "Die Deutschen stehen vor der Frage, ob sie eine überlastete und überbeanspruchte Gesellschaft ohne Zukunft haben wollen oder eine Gesellschaft, die durch Veränderungen bessere Aussichten hat."

Höhere Tabaksteuer

Unterdessen werden immer mehr Details der geplanten Reformen fixiert: Die geplante Tabaksteuer-Erhöhung zur Finanzierung von Projekten der Gesundheitsreform soll in drei Stufen erfolgen, teilte das Finanzministerium am Dienstag mit. Der Preis einer Schachtel Zigaretten soll per 1. Jänner 2004 um 40 Cent ansteigen. Die nächsten Erhöhungen um je 30 Cent stehen vermutlich in den Folgejahren an. Insgesamt sollen durch die Tabaksteuererhöhung 4,5 Milliarden Euro eingenommen werden. Diese Mittel sind für die Finanzierung des Karenzgeldes vorgesehen, für das bisher die Sozialversicherungskassen aufkommen.

SPD-Fraktionschef Franz Müntefering stellte am Dienstag einen Fahrplan für die Umsetzung der Gesundheitsreform vor, die als erstes von Schröders Projekten aus der Agenda 2010 auf den Weg gebracht werden soll: Am 18. Juni soll sich der Bundestag erstmals damit befassen. Für den 8. Juli ist eine Sondersitzung geplant, da das Parlament offiziell am 4. Juli in die Sommerpause geht. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, Printausgabe 28.5.2003)