
Die Ausstellung "Aus anderer Sicht" zeigt die frühe Berliner Mauer von der Ostseite.
Die Wunde der Berliner Mauer ist zwar verheilt, doch die Narbe dieses hässlichsten aller DDR-Plattenbauten juckt das wiedervereinte Deutschland immer noch. Heuer jährte sich der 50. Jahrestag der Errichtung des Symbols des Kalten Kriegs. In Berlin sind noch bis Anfang Oktober zwei hervorragende Ausstellungen zum Thema zu sehen.
Aus anderer Sicht dokumentiert die lückenlose Vermessung der frühen Berliner Mauer vonseiten des DDR-Regimes, als die Mauer diese Bezeichnung noch kaum verdiente. Stattdessen bestand sie aus Stacheldraht, Panzersperren, Häuserresten und eilig hergestelltem Ziegelwerk, besaß vergleichsweise wenig von der schrecklichen Perfektion der späteren Jahre.
Die zweite Schau unter dem Titel Hinter der Mauer: Glienicke - Ort der deutschen Teilung und erzählt die Geschichte der 500-Einwohner-Gemeinde Klein-Glienicke, die während des Bestehens der DDR nur über die eine Brücke erreichbar war. Der einst noble Ort an der Westberliner Peripherie war ansonsten vollständig von der Mauer umgeben, die schmalste Stelle der DDR befand sich hier: Eine Kurve, an der der Abstand von einem Mauerabschnitt zum nächsten nur wenige Meter betrug.
Klein-Glienicke galt deshalb als "Blinddarm der DDR". Ein erhalten gebliebenes Modell des Orts, das die Stasi in den 1980ern anfertigen ließ, führt die exponierte Lage des Orts in der Ausstellung vor Augen. Unter also absurden Bedingungen versuchten sich die Bewohner mit der Mauer zu arrangieren. Doch staatliche Paranoia und Spitzelwesen, das nach erfolgreichen Fluchtversuche immer unerträglicher wurde, verunmöglichte zusehends ein normales Leben.
Aufzeichnungen und Erinnerungen der Bewohner machen die Beklemmung nachvollziehbar, die an diesen Ort im Würgegriff der Diktatur den Alltag prägte. Regimefreundliche Familien wurden angesiedelt, alte Häuser nah am Todesstreifen abgerissen, alteingesessene Familien vertrieben. Die Mauer durfte nicht fotografiert werden, Aufnahmen mussten als Familien- oder Kinderfotos getarnt und in anderen Orten zum Entwickeln gebracht werden.
Blicke ins Wohnzimmer
In Tondokumenten berichten Bewohner der Gemeinde über diesen Wahnsinn. Sie erzählen von einem Stasi-Mitarbeiter, der jeden Abend mit seinem Hund spazieren ging und in fremde Wohnzimmer schielte, in denen nach 22 Uhr noch Fernsehlicht wahrnehmbar war. Das staatliche DDR-Fernsehen endete damals um 22 Uhr, also mussten die Bewohner West-Fernsehen gucken. Das war verboten, man riskierte damit Repressalien.
Sogar Bürger, die der DDR gegenüber Dankbarkeit für ihren gesellschaftlichen Aufstieg empfanden - etwa eine Bauerntochter, die Lehrerin wurde - entgingen nicht dem Spitzelwesen, wurden ausgekundschaftet und landeten im Stasi-Archiv. Selbst nach der Wende wirkte die Mauer nach. Ein Bewohner von Klein-Glienicke erhielt einen Brief von einem Anwalt, in dem Besitzansprüche aus der Zeit vor dem Mauerbau geltend gemacht wurden. Die verlangte Miete konnte er sich nicht leisten, er zog weg. "Der Sozialismus hat es nicht geschafft, uns aus Klein-Glienicke zu vertreiben, aber der Kapitalismus schaffte es in wenigen Monaten."
Diktatur im Panorama
Die Ausstellung Aus anderer Sicht zeigt die Akribie, mit der die DDR ihren "antifaschistischen Schutzwall" betrachtete, der Mitte der 1960er-Jahre zum Teil noch löchrig wie Käse war. DDR-Soldaten fiel die Aufgabe zu, die 43,7 Kilometer lange innerstädtische Mauer abzulichten.
Der Fotograf Arwed Messmer und die Autorin Annett Gröschner entdeckten in den 1990er-Jahren bei Forschungen im Militärischen Zwischenarchiv einen Karton mit den Negativen dieser Arbeit.
Für Aus anderer Sicht hat Messmer die Aufnahmen bearbeitet und 1500 Einzelnegative zu 340 Panoramen von 250 Metern Länge zusammengesetzt. Entstanden ist eine kalte Landkarte, die von Zitaten aus Protokollen der Grenzposten vermenschlicht wird. Gleichzeitig verdeutlichen diese die herrschende Distanz zwischen den Weltanschauungen.
So entstehen knappe Episoden des Alltags. Die Protokolle der Grenzer berichten über Kontakte an der Mauer. Es sind Einzeiler über Fußball, das Wetter, kleine Höflichkeiten sowie Beschimpfungen und Provokationen aus dem politischen Fundus. Sie unterstreichen die Obszönität der Trennlinie, rufen in Erinnerung, dass diese weitgehend menschenleere Zone Menschen mehr noch als Ideologien trennte.
Die breiten Panoramaformate vermitteln eindrücklich die Dimension der Grenze, die gnadenlos quer durch Häuser, Straßen und Friedhöfe gezogen wurde. Und sie illustrieren die Detailversessenheit und den buchhalterischen Irrsinn hinter der Maueridee. (Karl Fluch aus Berlin / DER STANDARD, Printausgabe, 5. 9. 2011)