
Als die Studentin Dafni Lif am 14. Juli aus Zorn über die hohen Wohnungsmieten auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard ein Zelt aufbaute, rechnete niemand damit, dass Israel Anfang September etwas erleben würde, was manche als "historische Nacht" bezeichnen. Im August waren die Demonstrationen nach den Terroranschlägen in Südisrael heruntergefahren worden - aus Respekt für die Anschlagsopfer und aus Solidarität mit den gefährdeten Mitbürgern. Man fragte sich, ob mit der Rückkehr der Nahost-Realität und mit dem Ende des Sommers der soziale Traum vielleicht schon wieder verflogen sei.
Inzwischen hat in Israel das Schuljahr wieder begonnen, und trotzdem marschierte zu später Stunde eine Rekordmasse durch die Straßen und löste mehr Debatten aus als etwa die akute Krise in den Beziehungen zur Türkei. Da machte es wenig aus, dass via Facebook großspurig und leichtsinnig ein "Marsch der Million" angekündigt worden war, eine Zahl, die in einem Staat mit knapp acht Millionen Einwohnern natürlich nicht erreicht werden kann - doch die Protestbewegung hat bewiesen, dass sie lebendig und kräftiger denn je ist.
Nach wie vor ist die Bewegung aber diffus. Zur Demonstration am Samstag, die sich ja generell gegen die hohen Preise richtete, kam etwa auch eine Delegation von verzweifelten Milchbauern oder eine Gruppe von Kunsttherapeuten, die sich um die gesetzliche Anerkennung ihres Berufszweigs sorgen. Die Bewegung fordert perfekte Sozialleistungen und niedrigere Steuern zugleich, was ein naiver, beinahe grotesker Widerspruch ist. Doch gerade die Breite macht auch die Stärke aus: Wenn so viele Stimmen gleichzeitig nach erschwinglichen Wohnungen, Gratisbildung, niedrigeren Auto- und Benzinpreisen, besseren öffentlichen Verkehrsmitteln und Maßnahmen gegen die Preisabsprachen der Lebensmittelketten und Mobiltelefonanbieter rufen, kann keine Regierung weghören. Zudem ist die Bewegung noch dadurch unwiderstehlich sympathisch, weil es ihr gelungen ist, fast völlig gewaltfrei zu bleiben und sich aus jeglicher Parteipolitik herauszuhalten.
In der Euphorie scheint den Aktivisten nun alles möglich, doch natürlich muss man sich fragen, was konkret machbar ist. Skandinavische Verhältnisse wird es in Israel nicht so bald geben, weil das Land wenig Ressourcen hat, viel für Rüstung ausgeben muss und ganze Sektoren - streng religiöse jüdische Männer und arabische Frauen - wenig arbeiten. Reformen können nur durch Politik umgesetzt werden. Die Aktivisten müssten also in Parteien einsteigen oder neue gründen und würden so ihre Frische und Unschuld bald verlieren. Unter den gegenwärtig führenden Politikern ist ausgerechnet Premier Benjamin Netanjahu der einzige, der als wirtschaftskompetent gilt - Oppositionschefin Zipi Livni, die jetzt auf den Protestzug aufzuspringen versucht, hat sich im Sozial- und Wirtschaftsbereich bisher nicht profiliert. Netanjahu aber, sagen seine Gegner, sei ideologisch so sehr im "schweinischen Kapitalismus" der 1980er-Jahre verwurzelt, dass er die Tiefe des Unbehagens gar nicht erfassen könne.
Die Protestbewegung hat kein fokussiertes Programm, und ein gewachsenes Wirtschaftssystem kann man bestimmt nicht auf Knopfdruck ändern. Aber jede israelische Regierung wird ab jetzt - genauso wie auf die Bedrohung von außen - auch auf die innere Befindlichkeit ihrer Bürger achten müssen. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.9.2011)