
Predrag Matvejević (79) ist ein ex-jugoslawischer Schriftsteller. Er wurde in Mostar geboren. Nach seiner Kritik an der politischen Rechten emigrierte er 1991 nach Frankreich, lehrte an der Sorbonne und danach an der Sapienza in Rom. Matvejević ist Vizepräsident des PEN-Clubs und lebt in Italien.
Er fordert eine tiefere Auseinandersetzung mit den Balkankriegen der 90er-Jahre und dem Zweiten Weltkrieg, sagte er zu Adelheid Wölfl.
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STANDARD: Was verbindet die Teilnehmer von Bejahad?
Matvejević: Viele kommen aus Nostalgie. Sie waren als Juden für Jugoslawien, weil sie eben auch unter den Nationalismen gelitten haben. Ein neues Jugoslawien ist nicht mehr möglich. Die verschiedenen Seiten haben sich gegenseitig zu viel angetan. Aber was schon möglich ist, ist eine Art Osmose der verschiedenen Kulturen, wie es früher war, nicht im politischen Sinne, aber zwischen den Menschen. Deswegen bin ich da, obwohl ich kein Jude bin. Ich komme hierher, weil das der einzige Ort ist, wo Leute aus ganz Jugoslawien zusammenkommen.
STANDARD: Ist diese Begegnung möglich, weil die Juden als Minderheit eben nicht in den Zerfall Jugoslawiens involviert waren?
Matvejević: Ja, weil sie eine Minderheit sind, werden sie gehört. Bejahad kann mit dieser Weltoffenheit zur Deprovinzialisierung in Mitteleuropa einen Beitrag leisten. Denn hier geht die Entwicklung ohnehin in die andere Richtung.
STANDARD: Überall in Europa wächst der Nationalismus. Ist es auch deshalb so schwer, ihn jetzt in Exjugoslawien zu überwinden?
Matvejević: Es ist schwieriger hier, weil der Krieg noch nicht so lange her ist. Und auch der Zweite Weltkrieg ist hier noch immer sehr präsent, weil man sich nicht damit auseinandergesetzt hat. Deutschland wurde nach dem Krieg aufgefordert, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Das eigene Bild im Spiegel zu sehen ist das beste Mittel gegen Nationalismus und Provinzialismus. Aber die Kroaten wollen keinen Spiegel, und die Serben wollen auch keinen.
STANDARD: Wer soll ihn vorhalten? Matvejević: Ich hoffe, dass die EU das verlangen wird. Es darf nicht nur um die Wirtschaft gehen. Wir dachten ja, dass der Nationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg vorbei ist. Und in Deutschland würde man sofort jemanden einsperren, der mit Hitlergruß auf dem Hauptplatz steht. In Zagreb und Belgrad ist das leider anders.
STANDARD: Die sozialdemokratischen Parteien auf dem Balkan sind nicht mit jenen in Mitteleuropa zu vergleichen. Ist die Linke hier in einer besonderen Krise?
Matvejević: Die Linke hat sich hier nicht erholt. Sie nimmt nicht teil am Diskurs. Zudem gibt es keinen Ort für eine heilsame Auseinandersetzung. Man kann alles sagen, man kann auch das Richtige sagen, aber es wird nicht gehört.
STANDARD: Was hat der EU-Beitrittsprozess für Kroatien bisher gebracht?
Matvejević: Die eigentliche Arbeit hat das Gericht geleistet, als Sanader (Ex-Premier Kroatiens, Anm. der Red.) und andere Führungspersönlichkeiten eingesperrt wurden. Denn dann hat die EU gesagt, dass das Rechtssystem jetzt funktioniert. Aber das ist nicht das Verdienst der Regierung. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.9.2011)