Ich möchte sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde, an diesem schönen Ort um Himmels Willen nicht belehren, sondern, so es mir vergönnt ist, unterhalten. Der Titel des Vortrages, der mir vorgegeben wurde und den ich nicht wagte in voraus zu verändern, überfordert meine Kenntnisse, ich glaube übrigens, dass man über Wien und seine Juden dicke Bücher schreiben kann und soll, aber dass es unmöglich ist dieses Thema an einem Augustsonntagnachmittag an der Adria zu bewältigen.
Gestatten sie mir also, bitte, über Wien und einige wenige seiner Juden zu erzählen. Ich werde mich nur auf einen kurzen Zeitraum konzentrieren, in dem die Rolle der Juden für das Leben in Wien besonders stark zum Ausdruck gekommen ist. Ich zitiere am Anfang aus einem Buch, lasse aber vorerst Namen aus um Sie nicht allzu früh auf die richtige Fährte zu bringen, den Autor verrate ich ihnen später:
„Im Oktober war ich schon in Wien. Bald kam meine Frau mit dem Kinde. In Erwartung einer neuen revolutionären Welle ließen wir uns außerhalb der Stadt, in Hütteldorf, nieder. Man musste lange warten. Aus Wien trug uns nach sieben Jahren eine ganz andere als die revolutionäre Welle hinaus - jene, die den Boden Europas mit Blut getränkt hat..." an einer anderen Stelle: „Aber während all dieser Jahre verfolgte ich viel aufmerksamer das deutsche Leben als das österreichische, das zu sehr an das Treiben eines Eichhörnchens in einer Trommel erinnerte..."
Ein weiteres Zitat über österreichische Sozialdemokraten:
„Diese Menschen wussten viel und waren fähig im Rahmen der politischen Routine gute marxistische Aufsätze zu schreiben. Aber es waren mir fremde Menschen. Davon überzeugte ich mich um so stärker, je mehr sich der Kreis meiner Verbindungen und Beobachtungen erweiterte. Im ungezwungenen Gespräch untereinander zeigten sie viel offener als in Artikeln und Reden bald einen unverhüllten Chauvinismus, bald die Prahlsucht des kleinen Besitzers, bald den heiligen Schauer vor der Polizei, bald das vulgäre Benehmen gegen die Frau."
Eines Tages wird der Autor von einem dieser Menschen, einem Arzt, zum Chef der politischen Polizei mitgenommen, wieder ein Zitat:
„Er sprach vorsichtig die Vermutung aus, dass schon am anderen Morgen ein Befehl zur Verhaftung ausgegeben würde.
‚Also sie empfehlen abzureisen?'
‚Je schneller, um so besser.'
‚Schön, ich fahre morgen mit der Familie in die Schweiz.'
‚Hm... ich würde es vorziehen, sie täten es heute.'
Dieses Gespräch fand um 3 Uhr mittags statt, und um 6.10 saß ich schon mit meiner Familie im Zug, der nach Zürich fuhr. Hinter mir blieben siebenjährige Verbindungen, Bücher, Archive, angefangene Arbeiten..."
Wenn sie, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, geglaubt haben, dieses Gespräch habe 1938 nach dem Einmarsch der Nazis in Wien stattgefunden, liegen sie falsch. Es war am 3. August 1914. Der Autor, den ich aus seinem Buch „Mein Leben" wortwörtlich zitiert habe, hieß Lew Dawidowitsch Bronnstein, besser bekannt als Trotzki, der Doktor, der ihm zum damaligen Chef der politischen Polizei mit Namen Geyer brachte, war Viktor Adler, der Begründer der österreichischen Sozialdemokratie.
Zwei Juden in Wien. Nun gut, Trotzki ist nicht in Wien geboren, er hat nicht besonders lange in Wien gewohnt, politisiert, geschrieben und in Cafés Schach gespielt, jedoch, wie wir bald sehen werden, sind die meisten Persönlichkeiten, an die ich erinnern möchte, nicht in Wien geboren.
Lassen Sie mir meiner Phantasie Lauf geben. Da sitzt in einem wiener Café ein Mann mit schwarzem Bart, hat die Zeitungen durchflogen, ärgert sich, weil sie nicht das veröffentlichen, was er, selber ein bekannter Journalist, das Publikum wissen lassen möchte und macht sich Notizen für sein neues Buch. Vielleicht folgendes:
„Phantasie darf man es nicht nennen, sondern höchstens Kombination..."
Anderes Zitat:
„Sind die Leiden der Juden nicht groß genug? Wir werden sehen..."
Das hat er Ende des XIX. Jahrhunderts geschrieben, Adolf Hitler war noch kein Thema. Er denkt über Assimilierung nach:
„Aber vielleicht könnten wir überall in den uns umgebenden Völkern spurlos aufgehen, wenn man uns nur zwei Generationen hindurch in Ruhe ließe. Man wird uns nicht in Ruhe lassen..."
Er macht sich Gedanken über Argentinien als Auswanderungsland für Juden, meint aber, es folgt wieder ein Zitat:
„Wenn seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten wir uns dafür anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln..."
Köstlich finde ich folgenden Spruch:
„Vielleicht denkt jemand, es werde eine Schwierigkeit sein, dass wir keine gemeinsame Sprache haben. Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillett zu verlangen? Das gibt es nicht."
Genau mit diesen Worten steht es im Buch, dass 1896 veröffentlicht wurde. „Das gibt es nicht!" So kann man sich irren, selbst wenn man Theodor Herzl ist, sie haben ja längst erraten, dass ich von ihm und seinem fundamentalen Werk „Der Judenstaat" spreche.
Herzl schrieb auch: „Käme ein Mann des vorigen Jahrhunderts wieder, er fände unser ganzes Leben voll unbegreiflicher Zauberei."
Das gilt heute genau so, wie vor mehr als hundert Jahren. Könnte Theodor Herzl in Israel auferstehen, müsste er sich zuallererst in eine Sprachschule begeben, um ein Einsenbahnbillet kaufen und im Internet surfen zu können.
Felix Salten und Karl Kraus. Geohrfeigt sollen sie sich haben und das noch öffentlich. Widersprüchlicher, als diese beiden wiener Juden, kann man kaum sein.
Bambi. Das Reh kennt ein jeder. Wer der Autor war, wissen die wenigsten.
Dass sich dieser wundervolle Kinderbuchautor auch als Pornograph betätigt hat, ist ebenfalls kaum bekannt. Die Lektüre über die Mutzenbacherin finde ich auch heute noch, ich kann es nicht präzisier ausdrücken, zum kotzen. Der richtige Name von Felix Salten war Siegmund Salzmann, er nutzte auch andere Pseudonyme. Seine sind folgende Verse:
„Jeder Schuß
Ein Ruß,
Jeder Stoß
Ein Franzos
Jeder Britt,
Ein Tritt..."
Für Serbien fiel ihm kein guter Reim mehr ein und er schrieb:
„Serbien muß sterbien!"
Karl Kraus hat Salten in den „Letzten Tagen der Menschheit" karikiert und der Person, die an ihn erinnern sollte, die unglückseligen quasiepatriotischen Zeilen in den Mund geschoben, deshalb werden sie oft irrtümlicherweise für ein Karl-Kraus-Zitat gehalten. So unterschiedlich haben sich zwei wiener Juden in Hinsicht auf den Ersten Weltkrieg verhalten. Salten war begeistert vom Krieg, schrieb in der „Neuen Freien Presse" den berühmt-berüchtigten Satz „Es muß sein!" Karl Kraus setzte sich mit der ganzen Schreibkraft seines einzigartigen Talentes gegen den Krieg ein, mehrere Ausgaben seiner Zeitschrift „Fackel" wurden beschlagnahmt, andere von der Zensur behindert.
Salten und Kraus „Wiener Juden"? Salten wurde in Budapest geboren und im Babyalter von vier Wochen nach Wien gebracht, Kraus in Jitschin in Böhmen, seine Familie übersiedelte als er drei Jahre alt war in die österreichische Hauptstadt. Theodor Herzl ist in Budapest geboren, Sigmund Freud in Böhmen, Löhner Beda, von dem bald viel die Rede sein wird, ebenfalls.
Von Karl Kraus heißt es er habe sein Leben lang „polarisiert". Er war ein Streithahn der nicht nur mit allem und jeden unzufrieden war sondern das auch sprachgewaltig ausdrücken konnte. Seine Prinzipien passten sich keiner Konvention an. Nicht gut für einen Wiener und schon gar nicht für einen Juden. Elias Canetti - der auch in dieses Gespräch gehörte, aber dessen Name ich nur am Rande erwähne - sagte über Karl Kraus: „Das sei der strengste und größte Mann, der heute in Wien lebe..."
Auf Grund eines solchen Charakters kann man das Verhältnis von Kraus zum Judentum erklären. 25 Jahre alt tritt er aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft aus, mit 37 lässt er sich in der wiener Karlskirche römisch-katholisch taufen, mit 49 tritt er auch aus der katholischen Kirche aus. Einer seiner Gegner stellte fest: „Hinter Karl Kraus steht keine Religion, kein System, keine Partei, hinter Karl Kraus steht immer wieder nur Karl Kraus."
Ganz anders Felix Salten, der sich überall anbiedert. Mit 31 lernt er im Café Griendsteidl Jung-Wien kennen, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannstahl, dessen jüdisch-orthodoxer Grossvater geadelt wurde, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr und eben Karl Kraus.
Salten war ein Bewunderer Theodor Herzls. Logischerweise war es Karl Kraus keineswegs, im Gegenteil, gegen den „Judenstaat" schrieb er ein Pamphlet „Eine Krone für Zion" in dem er Herzl als „Möchtegern König von Zion" verspottete, und die Idee einen Irrweg nannte, der einzig zuverlässige Pfad für die Juden sei die Assimilierung: „Es ist kaum anzunehmen, dass die Juden trockenen Fußes in das Gelobte Land einziehen werden, ein anderes rotes Meer, die Sozialdemokratie, wird ihnen den Weg dahin versperren."
Salten will auf allen Hochzeiten tanzen. Er engagiert sich stark für den Zionismus und Herzl. Salten wurde ja auch Herzls Nachfolger als Chef des Feuilletons der „Wiener Allgemeinen Zeitung", wo sein Bekanntschaftsgrad begründet wurde. Er sucht lustige Freundschaften, berichtet wird über Fahrten mit dem Fahrrad im Ausseer Land: Salten, Hoffmansthal, Wassermann, Herzl, da gibt es eine Beschreibung Herzls von Helene Klepetar: „In der Kastanienalle, die Alpenheim mit der Privatvilla meines Onkels verband, übte sich eine herrliche Männergestalt im Radfahren. Zu dem tiefschwarzen Bart und den strahlenden dunklen Augen hätte der Burnus besser als die Dreß gepasst."
Salten will überall mitmischen und geliebt werden, er bewirbt sich erfolgreich von Arthur Schnitzler die Präsidentschaft des österreichischen P.E.N. Klubs zu übernehmen. Eine heikle Geschichte. Er will es einem jeden Recht machen auch als er in die Auseinandersetzungen mit Hitlers Nationalsozialismus hineingezogen wird. Auf einem der wichtigsten P.E.N.-Kongressen überhaupt, im Mai 1933 in Dubrovnik, hat er sich schlecht und dumm verhalten.
Nach der Machtergreifung der NSDAP beschloß die Generalversammlung des Deutschen P.E.N. „fortan im Gleichklang mit der nationalen Erhebung zu arbeiten."
Aus diesem Grund war die Teilnahme des so gearteten Klubs auf dem Kongreß in Dubrovnik im Vorfeld umstritten, aber der österreichische P. E. N., dessen Präsident Felix Salten war, schickte ein Unterstützungsschreiben an die Deutschen. Im Namen der aus Deutschland wegen Hitler emigrierten Schriftstellern ergriff Ernst Toller das Wort, aus Protest verließen die „Reichsdeutschen", die Italiener, noch einige, aber auch Felix Salten den Saal.
Da hier im Saale viele Exjugoslawen sind, stellen sie sich vielleicht die Frage, wie sich der jugoslawische P. E. N. verhalten hat. Wer es nicht weiß, wird sich wundern, es gab gar keinen jugoslawischen, sondern in Jugoslawien einen serbischen, einen kroatischen und einen slowenischen P. E. N. Klub. Die kroatischen und die serbischen Mitglieder schlossen sich den Reichsdeutschen an, die Slowenen unterstützen Toller und die Gründung eines Deutschen P.E.N. in der Emigration.
Wir haben uns 50 Jahre danach in Dubrovnik versammelt, unter uns nur eine einzige Telnehmerin die noch am Leben war, Desanka Maksimović. Ich fragte sie warum sich die Serben so benommen hätten:
„Ich bin eine alte Frau, ich erinnere mich nicht."
Dann fragte ich sie. ob sie sich an Ernst Toller erinnern könne?
„Oh ja, wir haben auf einem Schiff miteinander getanzt, er war ein wunderschöner Mann!"
Toller war nun wirklich alles Mögliche, aber schön war er nicht. Da Toller zwar Jude, aber kein Wiener war, kehren wir zu Karl Kraus und Felix Salten zurück. Ich weiß nicht ob er es aus diesem Anlass über Salten gesagt hat, aber folgendes Karl-Kraus-Zitat passt wunderbar hierher:
„Es genügt nicht keine Meinung zu haben, man muss auch unfähig sein sie auszudrücken."
Salten hat sich als Jude bekannt, auch wenn er stets auch andere Freunde suchte. Kraus glaubte keine Freunde zu brauchen, hinsichtlich seines Judentums ironisierte er, er sei ein jüdischer Autor, doch fehle auf seinen Büchern der Hinweis auf „eine Übersetzung aus dem Hebräischen..."
Karl Kraus wurde 1936, also noch vor dem Anschluss, in Wien in der Dunkelheit von einem Radfahrer niedergestoßen. Von starken Kopfschmerzen konnte er sich nicht mehr erholen, einige Monate danach starb er an Herz- und Gehirnschlag. War das Totschlag oder ein Unglücksfall? Ich weiß es nicht.
Nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich blieb Felix Salten von persönlichen Repressalien verschont. Ich glaube nicht, dass es auf seinem internationalen Ansehen beruhte, denn bei vielen anderen hat das nichts genützt. Ich glaube, dass irgend ein wichtiger Fürsprecher daran erinnerte, dass er sich im Weltkrieg I. als Patriot auf der Seite Deutschlands, in Dubrovnik 1933 sogar als dem reichdeutschen P.E.N- nahe stehend erwiesen hat. Salten durfte 1939 in die Schweiz unter der behördlichen Auflage fahren keiner journalistischen Arbeit nachzugehen. In Zürich starb er dann von allen vergessen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Nun möchte ich eine traurige Geschichte von einem anderen Paar wiener Juden erzählen.
Der österreichische Librettist, Schlagertexter und Schriftsteller Fritz Löhner-Beda, wurde als Friedrich Löwy geboren, glaubte, er könne auch nach dem »Anschluss« Österreichs an Deutschland ruhig schlafen, weil er unter anderem für Franz Lehár das Libretto für »Das Land des Lächelns« geschrieben hatte, das Hitler liebte. Er wurde jedoch mit dem ersten Transport aus Wien nach Dachau geschickt. Dort stieß er auf einen alten Freund, den Liederkomponisten, -texter und -interpreten Hermann Leopoldi, der von Geburt her Hersch Kohn hieß.
Löhner-Beda und Leopoldi wurden von Dachau nach Buchenwald gebracht. Dort grämte sich Schutzhaftlagerführer, Obersturmbannführer Arthur Rödl: »Alle andere Lager haben schon ein eigenes Lied!« Er verkündete, wer eines mache, das ihm gefiele, bekomme zehn Mark. Viele Entwürfe wurden eingereicht, aber wer hätte sich mit den weltberühmten Löhner-Beda und Leopoldi aus Wien messen können?
Elftausend Häftlinge mussten auf dem Appellplatz das Buchenwaldlied singen, der besoffene Rödl gab Befehl, dass jeder Block zu üben hatte, bis es klappte, und so standen und sangen die Männer vier Stunden lang in der Dezemberkälte und verfluchten die Autoren ihrer neuen Hymne, deren Identität sie zum Glück nicht kannten, sonst hätten sie sie im Laufe der Nacht totgeschlagen. Dann musste Block für Block in Zehnerreihen im grellen Licht der Scheinwerfer singend an Rödl und anderen SS-Führern vorbeimarschieren, bevor die schrecklich frierenden und hungrigen Leute in ihre Blöcke genannten Baracken gehen, ihr kalt gewordenes Essen fassen und dann kurz schlafen durften.
Leopoldis Frau konnte nach New York entkommen, gemeinsam mit den Eltern Leopoldis gelang es ihr den Publikumsliebling freizukaufen. Er fuhr über Hamburg in die Freiheit, Reporter warteten am Kai, fotografierten, wie er den amerikanischen Boden küsste, das Bild ging um die Welt.
Nachdem sein Freund freigelassen worden war, hoffte Löhner-Beda umso mehr auf die Hilfe Franz Lehárs, verfluchte den berühmten Operettenkomponisten, weil nichts geschah, womit er ihm jedoch unrecht tat. Franz Lehár hatte mit zehn Textautoren zusammengearbeitet, alle zehn waren Juden, er hatte in Wien fast ausschließlich in jüdischen Kreisen verkehrt, auch seine Frau, Sophie, war Jüdin, aber Hitler mochte ihn nun einmal so sehr, dass er befahl Lehárs Operetten mit den Originaltexten spielen zu lassen, nur die Namen der Librettisten wurden nicht genannt. Sophie Lehár wurde zur Ehren-arierin ernannt. Das geschah durch einen Führererlass, der formal Deutschblütigkeitserklärung hieß.
Fritz Löhner-Beda wurde 1942 nach Auschwitz transportiert. Über seinen Tod gibt es eine eidesstattliche Erklärung von einem Mithäftling, Raymond van den Straten. Fünf Direktoren der I.G.-Farben haben das Lager inspiziert. Einer der Direktoren wies auf Dr. Löhner-Beda und sagte zu seinem SS-Begleiter: ›Diese Judensau könnte auch rascher arbeiten.‹ Darauf bemerkte ein anderer I.G.-Direktor: ›Wenn die nicht mehr arbeiten können, sollen sie in der Gaskammer verrecken.‹
Nachdem die Inspektion vorbei war, wurde Löhner-Beda aus dem Arbeitskommando geholt, so geschlagen und mit den Füßen getreten, dass er als Sterbender zu seinem Lagerfreund zurückkam und sein Leben in der I.G.-Fabrik in Auschwitz beendete. Löhner-Bedas Frau Helene, der er den Text des Liedes „Dein ist mein ganzes Herz" in Lehárs Operette „Das Land des Lächelns" gewidmet hatte, das Hitler so gern hörte, wurde mit ihren Töchtern Eva und Liselotte im Vernichtungslager Maly Trostinetz in Weißrussland umgebracht ..."
Fritz und Löhner-Beda, Hermann Leopoldi, Sophie Lèhar - Jüdinnen und Juden aus Wien.
Ein Jude, der Wien nicht leiden konnte, aber ohne Wien nicht leben wollte und unzertrennlich mit der Stadt verbunden ist, war Sigmund Freud. Sein Vater ließ ihn nach der Geburt als Sigismund Schlomo Freud eintragen.
Als wir 1992 nach Wien gekommen waren, musste ich mein Visum in der Fremdenpolizei in der Wasagasse verlängern lassen. Ich stellte fest, dass ich sie über die Berggasse erreichen konnte. Lachen sie mich nicht aus, mich ergriff eine gewisse Ehrfurcht, etwa so, wie als ich zum ersten Mal in Moskau auf dem Roten Platz stand. Und ich fragte mich wie viele der Ausländer, die da besorgt zur hochlöblichen Polizei eilten, aber auch der Beamten, die dort ihren Dienst ausübten, wußten, wer da ordiniert hatte.
Freud war nicht religiös, kein jüdischer Nationalist, aber er bemerkt in seiner Selbstdarstellung knapp „meine Eltern waren Juden" und fügt hinzu „Auch ich bin Jude geblieben." Das könnte man analysieren. Er sagt nicht „Ich bin Jude" oder für seine Familie „Wir sind Juden". Er fürchtet, es würde seinem Denksystem, seiner Idee, seiner Lebensaufgabe, der Psychoanalyse, schaden, dass er und viele seiner Anhänger Juden waren, und sagte: „Ihr seid zum größten Teile Juden und deshalb nicht geeignet, der neuen Lehre Freunde zu erwerben. Juden müssen sich bescheiden, Kulturdünger zu sein".
Als er beinahe achtzig Jahre alt war, schrieb er in einem Brief: „Ich hoffe, es ist ihnen nicht unbekannt, dass ich mich immer treu zu unserem Volk gehalten und nie für etwas anderes ausgegeben habe, als ich bin: ein Jude aus Mähren, dessen Eltern aus dem österreichischen Galizien stammten." Am einfachsten kann man sein Judentum weltlich nennen. In einem Brief an einen amerikanischen Kollegen schrieb er, Gott habe für ihn nicht so viel getan, er habe ihm keine innere Stimmen geschickt und deshalb werde er bis zum Ende ein ungläubiger Jude sein.
In Zusammenhang damit verweise ich auf das letzte Buch Freuds, dass er in Briefen schon einige Jahre vorher erwähnt, dass er aber erst in seinem Todesjahr 1939 in London fertig geschrieben hat „Der Mann Moses und die monotheistische Religion". Simplifiziert gesagt behauptet er da, dass Moses ein Mann des ägyptischen Pharaos Echnaton war und sozusagen das Judentum erfunden hat.
Sicher hat Freud den „Judenstaat" gelesen, wir wissen, dass er, man kann es am besten so ausdrücken, wie einer seiner Biographen, Peter Gay, „die Entwicklung des Zionismus mit wohlwollendem Interesse" beobachtet hat, aber so „wohlwollend" nun auch nicht, als dass er irgendwie etwas konkretes Positives zu seinen Gunsten gesagt, geschrieben oder sonst wie unternommen hätte. Albert Einstein hatte Freud gebeten eine Erklärung über den Zionismus abzugeben, er lehnte ab, ich zitiere aus dem Brief des einen Riesen an den anderen, geschrieben im Februar 1930:
„Wer eine Menge beeinflussen will, muss ihr etwas Volltönendes, Enthusiastisches zu sagen haben, und das gestattet meine nüchterne Beurteilung des Zionismus nicht."
Eigentlich ist er sehr skeptisch, glaubt nicht an die Möglichkeit, „dass die christliche wie die islamische Welt je bereit sein werden ihre Heiligtümer jüdischer Obhut zu überlassen".
Freud war vier Jahre älter als Herzl, hat den viel zu jung Verstorbenen um 35 Jahre überlebt. Sie haben als Juden im selben Wien gewohnt und gehörten zu dessen angesehenen Intellektuellen. Freuds „Traumdeutung" ist 1899 erschienen, er hat dieses Buch für sein wichtigstes gehalten, Herzls „Der Judenstaat" fünf Jahre früher. Ich habe wenig über die Beziehung der beiden, eventuelle persönliche Begegnungen, gefunden, einige Anekdoten, die ich, weil ich sie nicht für glaubwürdig halte, nicht nacherzählen möchte. Ich will nur auch dieses „Paar Juden" als solches behandeln, wie Felix Salten und Karl Kraus, wie Löhner Beda und Leopoldi.
Interessant ist, dass dieser Mann, der durch sein Wirken und seine Persönlichkeit so stark mit Wien verbunden ist, immer wieder behauptete, er möge diese Stadt nicht, er schwärmte von der Kleinstadt, in der er aufwuchs, von Freiburg, dem heutigen Pschibor. Ich zitiere wieder aus dem für mich sehr aufschlussreichen und umfangreichen Buch „Freud - eine Biographie für unsere Zeit" von Peter Gay:
„Freuds Sohn Martin meinte, dass seines Vaters laut und oft geäußerte Abscheu vor Wien in Wirklichkeit eine versteckte Liebeserklärung war. Ist es nicht typisch für den echten Wiener, sich darin zu gefallen, an seiner geliebten Stadt herumzunörgeln? Für jemanden, der Wien so erbittert hasste, wie Freud es jedem gegenüber behauptete, zeigte er einen ungewöhnlichen Widerwillen, es zu verlassen. Er sprach ausgezeichnet Englisch, er hatte gute Verbindungen im Ausland, er wurde wiederholt eingeladen, sich im Ausland niederzulassen, aber er blieb, bis er nicht länger bleiben konnte."
Als sehr alter Mann schrieb Freud nach seiner Ankunft in London, nachdem ihm die Nazis gestattet hatten Wien zu verlassen:
„Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt."
Die Hilfe Freuds hat zum Beispiel auch Gustav Mahler in Anspruch genommen, ein weiterer Jude, wie fast alle, die ich bisher erwähnt habe, der von anderswo, er aus Kališće - Kalischt - in der Tschechei, als Kind nach Wien gekommen ist.
Ich habe mich in meinem jüngsten Roman, „Buchstaben von Feuer", mit Weimer, Buchenwald und intensiv mit dem Bauhaus beschäftigt, demzufolge mit Walter Gropius, einem waschechten Berliner, der die Alma, Mahler abspenstig gemacht, aber die ihn wegen Franz Werfel wieder verlassen hat. Wegen Almas Seitensprung hat Mahler Freud konsultiert. Für mich ist Almas Verhältnis zu einem wiener Juden gewaltiger Größe, nach ihm zu einem Preußen, und am Ende wieder zu einem weltberühmten jüdischen Schriftsteller aus Wien, symbolhaft für die Beziehungen zwischen Wien und seinen DeutschösterreicherInnen zu den Juden.
Gustav Mahler war Altersgenosse von Herzl. Religiös war er nie. Dank seinen Angaben und Texten zur Dritten und Achten Symphonie und zum „Lied von der Erde" wissen wir, dass seine Weltanschauung naturreligiös war. In dieser Hinsicht war er Freud ähnlich, aber anders als dieser opferte alles für die Musik, konvertierte zum Katholizismus und begründete das folgendermaßen:
„Mein Judentum verwehrt mir, wie die Sachen jetzt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater. Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen. Überall bläst der selbe Wind."
Zehn Jahre lang, von 1897 bis 1907, war er trotzdem in Wien Hofoperndirektor und erster Kapellmeister. Er war nicht nur ein großer Komponist, sondern auch ein hervorragender Theatermensch, der viel persönliche Mühe der Probenarbeit widmete, es gelang ihm mit einem dramatisches Gesamtkonzept zu überzeugen, holte aus Sängern, Chor und Orchester das Maximum heraus. Auch während seiner wiener Jahre reiste er durch ganz Europa und Amerika um zu dirigieren und vor allem seine eigenen Werke aufzuführen. Man warf ihm vor, dass er zu wenig im eigenem Haus war, das war beste Nahrung für eine antisemitische Pressekampagne gegen ihn, er zerstritt sich auch mit seinen Vorgesetzten am Hof des Kaisers Franz Josef, wo sicher kein Antisemitismus herrschte, und so kamen beide Seiten dazu sein Amt an der Hofoper zu beenden, allerdings erhielt er eine recht hohe Pension.
Raten sie nun, bitte, wer Mahler mit folgenden Worten beschrieb:
„Getragen von der Gunst des Hasses, sorgsam beleuchtet vom Neid, diesem ewig schlaflosen und mächtigen Protektor aller Wirklichen, vom Spott, vom Misswollen und übler Nachrede, also von den lautesten Schallträgern an jeder Straßenecke ausgerufen, ist er berühmt geworden... Und so war es täglich zu hören, dass er seine Musikanten misshandelt, sie zu unmenschlicher Arbeit peitscht, schier zu Tode hetzt, und dass ihn alle, wären sie's nur imstande, am liebsten in einem Löffel Wasser ertränken möchten. Er kuranzt seine Sänger, hieß es, drillt sie wie Regruten, schaltet mit ihnen wie der Großtürke mit seinen Sklaven.
Den Jammer ringsumher, es sei der Arbeit zu viel, hört er mit Staunen, ohne ihn zu fassen. Er verrichtet ja dasselbe Maß, sitzt nicht faul zu Hause und lässt andere schuften. Nur freilich: ihm ist Arbeit Genuss, anderen Schweiß... Merkwürdig war auch der starke Anreiz, den seine Persönlichkeit übte. Die Intensität seines Wesens schien die ganze Stadt zu füllen..."
So hat es Felix Salten aufgezeichnet.
Alma war ganz bestimmt die große Liebe seines Lebens, aber er war neunzehn Jahre älter als sie. Heute darf man es wohl sagen, sie brauchte mehr Sex, als er geben konnte. Ich schüttele mich, bevor ich den Gedanken auszusprechen wage, schwingt da etwas von der Beziehung zwischen Wien und dem Judentum mit? Nicht einmal bei Freud finde ich eine Antwort auf eine so unverschämte Frage.
Jetzt würde ich gerne auf Franz Werfel, Almas dritten Mann, nach dem Deutschen, wieder einen Juden, zu sprechen kommen. Der war ja dreißig Jahre jünger, auch in der Tschechei, allerdings in Prag, geboren, später nach Wien gekommen, ebenfalls stark vom katholischen Glauben angezogen, aber, so viel ich weiß, brauchte er dafür keine formale Taufe...
Ich weiß nicht, ob Herzl tatsächlich Arthur Schnitzler vorgeschlagen hat, Direktor eines Theaters im zukünftigen Judenstaat zu werden. Schnitzler soll gefragt haben, in welcher Sprache denn seine Stücke dort gespielt werden sollten? Es klingt so nett, dass ich es sagen muss, aber ich habe keine Beweise dafür gefunden. Herzl hat ja nicht einmal genau gewusst, wo der Staat der Juden sein sollte, in Palästina oder doch in Argentinien.
Arthur Schnitzler war ein bedeutender Arzt, Spross einer Ärztefamilie, er hat über 70 Artikel, meist Rezensionen über Fachbücher, veröffentlicht, war Redakteur der von seinem Vater gegründeten „Internationalen klinischen Rundschau", hat in Krankenhäusern als Arzt gearbeitet und erst 31 Jahre alt seine eigene Praxis im Zentrum Wiens eröffnet.
An Ärzte erinnern sich meist nur dankbare Patienten, aber Schnitzler war gleichzeitig auch ein fabelhafter Erzähler, einer der wichtigsten Bühnenautoren seiner Zeit, vielleicht der bedeutendste Vertreter der „Wiener Moderne". Was war die „Wiener Moderne"? Man denke an den Hintergrund, stete Industrialisierung, erahntes Ende der Monarchie, gegensätzliche politische Strömungen. Behauptungen, die „Wiener Moderne" sei eine Erfindung von Juden, halte ich nicht für stichhaltig.
Sicher ist Schnitzler zu seiner Blütezeit der auf deutschsprachigen Bühnen meistgespielte Autor. Er ist auch aus heutiger Sicht einer der wichtigsten Kritiker der K. und k.-Gesellschaft. Nach der Veröffentlichung seines „Leutnants Gustl", in dem er das Lügenhafte des sogenannten Ehrenkodex des Militärs durch den Kakao zieht, wird ihm der Offiziersrang als Oberarzt der Reserve entzogen. Für den Patriotismus anlässlich des Ersten Weltkrieges konnte er sich nicht begeistern, obwohl manche wiener Juden glaubten mit Hurrageschrei ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft beweisen zu müssen. Genau wie der etwas ältere Freud bricht Schnitzler Tabus wie Sexualität und Tod, beschäftigt sich aber in seinen Romanen und Dramen auch mit dem Antisemitismus.
Im Laufe der Jahre, von denen bisher die Rede war, und Jahrzehnte davor, kamen immer mehr Juden aus dem Osten nach Wien. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft konnte man mindestens drei Gruppen feststellen:
- Alteingesessene jüdische Familien.
- Neuankömmlinge aus den Habsburger Ländern, die sich nicht zu sehr von den Altwiener-Juden unterschieden, also bürgerliche, relativ unauffällige Leute.
- Russische Juden, die ziemlich arm und relativ ungebildet, auffällig wegen ihrer Tracht, Haar- und Bartpracht waren. Die „feinen", wohlhabenden Herrschaften, die sich assimiliert hatten, auch wenn sie sich noch an bestimmte religiöse Sitten hielten, waren von ihnen peinlich betroffen und nannten sie „Kaftanjuden".
Viele zugewanderte Juden kamen als Hausierer und kleine Händler nach Wien, aber ihre Söhne waren fleißig - mussten besonders fleißig sein, um bestehen zu können, so wie Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten - als Ergebnis waren am Vorabend des XX. Jahrhunderts mehr als die Hälfte aller Journalisten, Ärzte und Anwälte in Wien Juden, von ihrer Anzahl unter den mit Operette und Kabarett verbundenen Künstlern gar nicht zu reden. Juden waren auch sehr stark als Verleger, Produzenten, Dichter, Buchautoren, Galeriebesitzer, Naturwissenschaftler, und Philosophen in Erscheinung getreten. An einer Stelle habe ich sogar die Behauptung gefunden, zu einem bestimmten Zeitpunkt seien 80 Prozent der aktiven Journalisten in Wien Juden gewesen.
Jakob Wassermann bestätigt in seinem Erinnerungsbuch „Mein Weg als Deutscher und Jude", dass im „auffälligen Gegensatz zu Deutschland hier fast alle Menschen, mit denen ich in geistige oder herzliche Berührung kam, Juden waren... Ich erkannte aber bald, dass die ganze Öffentlichkeit von Juden beherrscht wurde. Die Banken, die Presse, das Theater, die Literatur, die gesellschaftlichen Veranstaltungen, alles war in den Händen der Juden..." Der österreichische Adel sei „vollkommen teilnahmslos" gewesen, so blieb „das geistige und künstlerische Leben einigen Außenseitern - und den Juden überlassen."
Das behauptet kein Antisemit, dass stellt nüchtern ein aus Deutschland nach Wien angereister großer, jüdischer Romancier fest. Aber keine Frage, gerade dieser Erfolg der Juden musste der Nährboden für die nächste Welle des Antisemitismus werden. Es schlug die Stunde für einen Lueger.
Karl Lueger war von 1897 bis 1910 Bürgermeister. Bisher hat nur der derzeitige Bürgermeister, Michael Häupl, diesen Rekord gebrochen. Lueger hat wesentliche Bauvorhaben angeregt und Reformen durchgebracht, die Wien zu der Metropole machten, die sie heute ist. Sprichwörtlich ist allerdings vor allem sein Antisemitismus, weswegen ihn Adolf Hitler so bewundert hat und von ihm gelernt haben will. Lueger war ein geschickter Populist und nutzte alles, was seine städtische Machtstellung, auch vis-a-vis Kaiser Franz Joseph, fördern konnte. Er nutzte den Aufstieg vieler Juden im wiener Handel und den freien Berufen. Ich zitiere aus einer seiner Reden 1899:
„In Wien muss der arme Handwerker am Samstag Nachmittag betteln gehen, um die Arbeit seiner Hände zu verwerten, betteln muss er beim jüdischen Möbelhändler. Der Einfluss der Massen ist bei uns in den Händen der Juden, der größte Teil der Presse ist in ihren Händen, der weitaus größte Teil des Kapitals und speziell des Großkapitals ist in Judenhänden und die Juden üben hier einen Terrorismus aus, wie er ärger nicht gedacht werden kann..."
Lueger war jedoch kein Hitler und wäre auch keiner geworden, wenn er es gekonnt hätte. Gegen Ende seiner letzten Amtszeit als Bürgermeister sagte er:
„Ja, wissen'S, der Antisemitismus is' a sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen; wenn man aber einmal oben is', kann man ihn nimmer brauchen, denn des is' a Pöbelsport."
Ich habe bisher acht Persönlichkeiten bedeutender wiener Juden beleuchtet. Geboren wurden sie zwischen 1856 und 1899. Vier von ihnen wurden in Böhmen geboren, zwei in Budapest, nur zwei in Wien. Erwähnt habe ich weitere acht wichtige Menschen, geboren zwischen 1852 und 1897, Juden, die mit Wien zu tun hatten. Das hatte ich nicht in voraus beabsichtigt. Überrascht muss ich feststellen, dass ich nur einige Jahrzehnte behandelt habe, nicht, wie bestellt, über „Wien und seine Juden" referiere, aber ich hoffe, dass ich auf einen Zeitraum aufmerksam mache, in denen beutende Menschen jüdischer Herkunft Wien, wie wir es heute noch kennen und lieben, entscheidend mitgeprägt haben.
Ich konnte trotzdem nicht einmal diese Periode ausführlich aufzeichnen. Ich habe, zum Beispiel, Hugo von Hofmannstahl nur am Rande erwähnt, wo er doch so wichtig für die von mir bewunderte Zeit ist. Natürlich bin ich Stefan Zweig, den ich so gerne lese und der in diese Reihe gehört, schuldig geblieben. Stefan Zweig sagte, er sei „zufällig Jude". Franz Werfel habe ich nur zu kurz in Zusammenhang mit der Alma genannt, wobei ich ihn doch besonders verehre und seinen Roman „Barbara oder die Frömmigkeit" für genau so wichtig für die Verständnis Österreichs zu Zeiten der Habsburgs halte, wie den „Radetzkymarsch" von Joseph Roth, der auch wunderbar hierher passt, wenn er auch der jüngste in dieser Gesellschaft wäre. Ich muss mir aber noch Zeit lassen um einen besonders wichtigen wiener Juden des XX. Jahrhunderts zu erwähnen, vor allem weil wir in dieser Runde auch einen Politiker brauchen.
Zum ersten Mal im Leben habe ich für Tito und seine Gäste, es waren der österreichische Bundeskanzler und sein Außenminister,1965 gedolmetscht. Am zweiten oder dritten Tag gingen wir nach dem Besuch eines Instituts die Treppe hinunter, ich neben dem Außenminister, und der fragte mich leise:
„Wieso sprechen sie so gut Deutsch?"
Ich antwortete frech, wie ich immer noch bin:
„Weil ich auch a Jud' bin, wie sie, Herr Minister."
Natürlich haben Sie erraten, dass ich von Bruno Kreisky spreche.
Kreisky war ein halbes Jahrhundert jünger, als die meisten Männer, die ich wir bisher erwähnt habe, aber von seinem ganzen Habitus, vor allem dank seiner hervorragenden, brillanten Intelligenz, gehört er aus meiner Sicht in diesen Kreis.
Er war keinesfalls böse wegen meiner ungehörigen Bemerkung, im Gegenteil, er hat mich danach bei offiziellen Treffen bis zur Peinlichkeit bevorzugt. So auf einer internationalen Begegnung europäischer Sozialdemokraten, auf die auch der Bund der Kommunisten Jugoslawiens als Gast eingeladen wir. Bescheiden stehen der Chef unserer Delegation und ich am Rande des Saales, da kommt schon Kreisky auf uns zu, streckt aber mir die Hand entgegen und sagt:
„Der Ivanji ist auch da!"
Ich verlegenst:
„Ja, guten Tag, Herr Bundeskanzler, aber hier ist doch der Herr Stane Dolanz."
Natürlich weiß ich, dass es gerade auch unter Juden verschiedene Meinungen über die Nahostpolitik, über die manchmal seltsamen Verbündeten, mit denen er Kompromisse eingegangen ist, vielleicht auch über die Weltanschauung Kreiskys gibt. Das kann hier nicht unser Thema sein. Ich war öfter dabei, als er die Begründung dafür jugoslawischen Spitzenpolitikern erläutert hat und das ist eine große Bereicherung meines Lebens. Zum Thema „Wien und seine Juden" gehört aber, dass dieser Bruno Kreisky als Staatssekretär, Außenminister, Bundeskanzler und Vorsitzender der SPÖ mehr als zwanzig Jahre lang das heutige Österreich mitgestaltet, ich würde sagen, geprägt hat. Ich zähle diesen wiener Juden zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts.
Ich bin sehr stolz darauf, dass ich mein Buch, „Titos Dolmetscher", in dem auch viel von Kreisky die Rede ist, im Bruno-Kreisky-Forum, im Haus in dem er lange gewohnt hat, in der wiener Armbrustergasse, vorstellen durfte.
Erschrocken stelle ich fest, dass ich, obwohl ich über die Hauptstadt eines Landes spreche, dass soeben seine Hymne verändert hat nur um seine „großen Töchter" in einen Vers aufzunehmen, den man ab jetzt, fürchte ich, nur ein wenig stotternd singen kann, keine einzige bedeutende Frau angeführt habe. Ich möchte mich vor allem hinter der Ausrede verstecken, dass mein Auftrag war, über „Wien und seine Juden" zu sprechen, und nicht, wie es vielleicht aus heutiger Sicht korrekter wäre, über „Wien und seine Jüdinnen und Juden".
Für uns alte Kavaliere ist es schon schwierig genug, wenn man nicht mehr Fräulein sagen darf, sonst folgt die schnippische Bemerkung: „Ich sage auch nicht Herrchen, wenn der Mann unverheiratet ist." Aber lassen Sie mich, bitte, feststellen, dass ich im halben Jahrhundert, dass ich ausgehend von meinem Thema vorzustellen mir vorgenommen hatte, leider einfach keine überragende jüdische Frauengestalt gefunden habe, die hierher gepasst hätte.
Und heute? Als kleiner Jude aus Serbien im großen Wien möchte ich noch etwas erzählen dürfen.
Meine Frau und ich spazierten von einigen Jahren durch die Herrengasse. Zehn Schritte vor uns zwei gestikulierende, ältere Herren im lebhaften Gespräch. Meine Frau flüsterte:
„Das sind bestimmt ehemalige SS.-Männer!"
Wir pirschten uns an die Leute heran, lauschten unhöflich. Zwei wiener Juden, die rechtzeitig nach Amerika geflüchtet waren, zum ersten Mal nach so vielen Jahrzehnten in ihrer Heimatstadt in Jugenderinnerungen schwelgend.
In Altaussee habe ich den in Wien geborenen SS-Obersturmbannführer Wilhelm Höttl kennen gelernt, der Adjutant Kaltenbrunners war, der während des Krieges in Belgrad und Budapest Dienst schob. Höttl ist der Mann, dem Eichmann über den Ausmaß der Judenvernichtung erzählt hat. Er wusste anfangs nicht, was ich genau bin, klagte, dass ihm sein Kriegskamerad Eichmann die Waggons abgenommen habe, die er für Nachschub an die Ostfront brauchte, um 1944 ungarische Juden nach Auschwitz zu transportieren und fragte mich pathetisch:
„Was war nun wichtiger, der Kampf gegen den Kommunismus oder die Verlegung der Juden?"
Ich sagte, ich sei sowohl Kommunist, als auch Jude, und sei in einem dieser Waggons gewesen, die ihm sein Kriegskamerad Eichmann abspenstig gemacht hatte.
Ich habe Jahre lang in Wien darüber nachgedacht, dass ich in der Straßenbahn zufällig neben Herbert Andorfer zu sitzen kommen könnte, und dass wir als höfliche, ältere Menschen einander vielleicht freundlich zunickten.
Der aus Linz stammende Obersturmführer Andorfer war im Winter 1941/42 Kommandant des Konzentrationslagers „Sajmište" in Belgrad. Unter seinem Kommando wurden die jüdischen Insassen des Lagers in Sonderwagen mit Gas erstickt. Ob es 8.000 oder „nur" 6.000 waren weiß man nicht genau. Was ich weiß, ist, dass meine Mutter, eine Ärztin, auf diese Weise ermordet wurde. Meiner Meinung nach gehören auch diese Geschichten irgendwie zum Thema Juden und Wien.
Herbert Andorfer hat ungefähr genau so viele Menschen auf dem Gewissen, wie der serbische General Ratko Mladić. Sowohl Andorfer, als auch Mladić, haben vor den Massenmorden Schokolade an Kinder verteilt. Beiden gelang sich einige Zeit vor der Justiz zu verbergen.
Andorfer wurde erwischt und erhielt eine Strafe von 30 Monaten. Sie haben mich richtig verstanden, für den Mord an 6 bis 8 Tausend Menschen 30 Monate. Den Rest seines Lebens hat er friedlich im Salzburger Land verlebt und ist fast hundert Jahre alt geworden. Mladić? Wir werden sehen. Mladić gehört in keinen Vortrag über Wien und seine Juden? Einverstanden. Ich entschuldige mich bei allen jenen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, die jetzt verärgert sind, hoffe aber es gibt den einen oder anderen der versteht, warum ich glaubte in dieser Runde auch das sagen zu müssen, was ich gesagt habe.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit. (Ein Vortrag von Ivan Ivanji vom 28. August in Opatija, gehalten im Rahmen eines Treffens exjugoslawischer Juden/derStandard.at, 5.9.2011)