Am Montag, den 5. September 2011, ließ der ehemalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel seine Rücktrittsbombe platzen und erschütterte damit die österreichische Nichtrücktrittspolitik in ihren Grundfesten. So gesellte sich zu dem "Na endlich!"-Gedanken auch Verwunderung über die Entscheidung Schüssels. Gegen "seinen" damaligen Finanzminister Karl-Heinz Grasser wird seit Jahren ermittelt - die Vorwürfe ziehen immer weitere Kreise, führten aber bislang zu keinen strafrechtlichen Konsequenzen. Schüssels damaliger Innenminister Ernst Strasser stolperte bereits in den letzten beiden Jahren über Untaten die aus seiner Amtszeit bekannt wurden und wurde vor wenigen Monaten durch den Videobeweis seiner Korruption als EU-Parlamentarier zu Fall gebracht.
Selbstbedienung am Schlemmerbuffet
In den letzten Wochen, die vor allem im Zeichen der "Telekom-Affäre" standen, erhärteten sich verschiedene Verdachtsmomente, die von mehreren Seiten seit langem thematisiert wurden. Weitere Namen kamen ins Spiel. Das Kabinett Schüssel war, bis in die Ministerebene hinein, durchzogen von korrupten Machtmenschen, die das politische Feld durch ihren neu gewonnenen Einfluss als Schlemmerbuffet missbraucht haben. Nicht allen Personen, die in den letzten Wochen und Monaten in diesem Zusammenhang genannt wurden (und vielleicht noch genannt werden), können die gleichen Straf- bzw. politischen Untaten vorgeworfen werden - gemeinsam ist allen allerdings eine kriminelle Energie.
In Dankbarkeit verbunden
Welche konkrete Rolle Schüssel in diesem Theater gespielt hat, gilt es restlos zu klären. Im besten Fall hat er "nur" die Augen vor der Bereicherung einiger seiner Minister verschlossen, denn dass jemand wie er über Jahre hinweg keine Hinweise über die Vorgänge in seiner Regierung hatte, würde ihm seine unbestrittene Intelligenz absprechen. Sollte es sich um den "besten" Fall handeln, könnte man es ihm - zynisch formuliert - nicht einmal verdenken - immerhin kam der FPÖ im Jahr 1999 die Rolle des Königsmachers zu. Schüssel hatte seine Kanzlerschaft Jörg Haider zu verdanken und verhielt sich dementsprechend. Er sah weg, wenn er hinsehen hätte sollen. Er schwieg zu vielem und erhielt nicht grundlos den Beinamen "Schweigekanzler". Zur Bildung des Kabinetts Schüssel II in dieser Form kam es, so Andreas Khol in der ORF-Sendung "Der runde Tisch" am 5. September 2011, nachdem die langen Verhandlungen mit der SPÖ und danach mit den Grünen gescheitert waren. Wieder musste Schüssel dankbar sein, dass er eine Koalition mit der ehemaligen FPÖ, und dem nunmehrigen BZÖ, bilden konnte - sie war die letzte Chance, sich den Kanzlersessel zu sichern. Wieder - so jedenfalls der nicht unbegründete Verdacht - akzeptierte Schüssel politisch und ethisch verwerfliche, teils strafrechtlich relevante persönliche Bereicherung in seiner Regierung.
Moralisches Bewusstsein braucht keine rechtlichen Instrumente
Schüssel wies bei seiner Rücktrittspressekonferenz jede Schuld von sich und betonte, keine Kenntnis über etwaige Vorgänge dieser Art gehabt zu haben. Der Präsident der österreichischen Nationalbank, Claus Raidl, begrüßte im ZiB2-Interview den Rücktritt Schüssels. Er begründete dies damit, dass der Fokus zuletzt auf der Person Schüssel lag und man sich nun wieder voll und ganz auf die notwendige Aufklärung der Vorwürfe konzentrieren könne. Raidl zufolge sei es glaubwürdig, dass Schüssel nichts von kriminellen Machenschaften wusste. Der Bundeskanzler habe in Österreich weder ein Weisungsrecht, noch eine Richtlinienkompetenz und könne daher auch nicht für etwaige Taten seiner Minister verantwortlich gemacht werden. Für eine Politik mit Rückgrat, für Rechts- und Moralbewusstsein, braucht allerdings weder ein Bundeskanzler, noch sonst jemand, rechtliche Instrumente. Schüssel hätte - sofern er darin ernsthaft ein Problem gesehen hätte - sein Schweigen brechen müssen. Er hätte an die Öffentlichkeit gehen müssen, um seine Fehler zuzugeben. Er hat sich dagegen entschieden und das Treiben geduldet. Damit trägt er eine Mitschuld an dem Korruptionssumpf unter seiner Kanzlerschaft, die sich nicht leugnen lässt. Schüssel ist auch deshalb zurückgetreten, weil das Pflaster zu heiß wird und sich die Schlinge zuzieht. Seinen Rücktritt muss man anerkennen, darf ihn aber keinesfalls belobigen oder gar als Ende des Bohrens nach seinen persönlichen Verwicklungen betrachten.
Die fehlende Einsicht bleibt
Die (linke) Jagdgesellschaft, so die geflügelte Bezeichnung aus ÖVP-FPÖ-BZÖ-Kreisen für all jene, die sich (medial) kritisch zur Ära Schwarz-Blau äußern und (teils) von Anbeginn an Vorwürfe an die Adresse der damaligen Regierung richten, sei Schuld an dem Bild, das die Bevölkerung von der Politik bzw. den Politikern hat. Mit keinem Wort - und wenn man auch noch so genau jeden Kommentar, jede Pressemitteilung durchforstet - wird von Seite der ÖVP das eigene Verhalten reflektiert. Kein Anflug von Reue, Bedauern oder einem Eingeständnis von Fehlern ist zu vernehmen. Es scheint, als würde man nach dem Motto agieren: nur zugeben, was bereits lückenlos bewiesen ist. Gerade in Zeiten der Sparpakete, Kürzungen und Einschränkungen, die spätestens mit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ein inflationärer Bestandteil im Leben der Bevölkerung ist, stoßen die Machenschaften von Schwarz-Blau auf noch größere Ablehnung und suchen vergeblich nach Verständnis. Während die Menschen unter Krise litten - und immer noch leiden - wurden einige Politiker nicht müde, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Eine führungsstarke ÖVP unter dem neuen Parteiobmann Spindelegger müsste Farbe bekennen, eine umfassende Aufklärung der Vorwürfe vorantreiben und in Folge auch zu den eigenen Fehlern stehen. Doch Spindelegger bleibt auch in dieser Causa farb-, kontur- und sprachlos. Das legt den unweigerlichen Verdacht nahe, dass noch viele weitere Ungeheuerlichkeiten zu Tage treten werden - von der (polit-)ethischen Disqualifizierung ganz abgesehen. Für alle genannten Personen gilt die Unschuldsvermutung. (Leser-Kommentar, Stefanie Klamuth, derStandard.at, 9.9.2011)