"Gelassenheit ist Passivitätskompetenz, ein Modus von Klugheit", schreibt der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk. Im Jahr 2000 hatte ihn der damalige Kanzler Wolfgang Schüssel zu diversen "philosophischen Mittagessen" eingeladen und dürfte dabei diese Sentenz nachhaltig verinnerlicht haben, wie er es uns auch bei seiner Rücktritts-Pressekonferenz am vergangenen Montag wieder einmal vor Augen geführt hat. "Ein perverses Ganzes kann sich die relative Integrität der Teile zu eigen machen, ohne sie ganz zu korrumpieren", lautet eine andere Erkenntnis Sloterdijks, mit der sich Schüssel - als persönliche Bilanz der schwarz-blau-orangen Regierung - bei den nun auf ihn zukommenden Befragungen und Einvernahmen verteidigen könnte.

Aber wie war es um diese Integrität wirklich bestellt? "Ich vermisse meine ehemaligen Mitarbeiter. Auch das Regierungsteam. Das waren alles Giganten. Dass die gut waren, das glaube ich wirklich", erklärte der Ex-Kanzler noch vor knapp zwei Jahren, nicht ohne hinzuzufügen, dass er "überhaupt nicht glaube, dass es falsch gewesen wäre", Grasser zum Vizekanzler zu machen, und dass "Reichhold ein ehrlicher Mensch ist."

Dass von den Giganten Grasser, Reichhold, Gorbach oder Strasser nur ihre gigantische Dreistigkeit in Erinnerung bleiben wird, führt zur Frage, wie sich Schüssel bloß so täuschen konnte. Er gilt selbst bei seinen Gegnern als intelligent, im Privatleben bescheiden und als der illegalen persönlichen Bereicherung unverdächtig. In das klassische Politiker-Bashing-Schema "Trottel oder Gauner" - die Spezial-Variante "und" statt "oder" gibt es vornehmlich in der Kärntner Politik - scheint er nicht zu passen.

In der Sexualität kennt man Formen von Voyeurismus, bei denen nur unbeteiligtes Beobachten sexueller Handlungen den ansonsten impotenten Betrachter erregen kann. Gibt es parallel dazu eine Art "kriminellen Voyeurismus", bei dem unbescholtene Bürger am Wahrnehmen krimineller Aktivitäten in ihrem persönlichen Umfeld heimlich Gefallen finden und, anstelle moralischer Entrüstung, Gefühle der Bewunderung für die handelnden Personen entwickeln? Hat Schüssel das nicht schon vor vielen Jahren erkennen lassen, als er dem wahlkämpfenden Berlusconi freudig erregt "Alles Gute, Silvio!" zurief?

Oder werden uns weitere Enthüllungen um den "Eurofighter" lehren, dass alle psychologischen Erklärungsmodelle versagen, wenn es in Wahrheit um das Grundübel der heimischen Politik an sich geht, nämlich um verdeckte Parteienfinanzierung?

Wenn Wolfgang Schüssel aber auch heute keinerlei schuldhaftes Verhalten bei sich oder seiner Partei erkennen kann, liegt das möglicherweise an seiner Fehlinterpretation der Sloterdijk'schen Definition von Philosophie als "Bruch der Intelligenz mit der aktuellen Situation plus Wiederansiedlung in Idealsituationen". Sein offensichtliches Missverstehen dieses Satzes sollte der Ex-Kanzler möglichst bald als solches erkennen, sonst werden wir vielleicht nie wissen, ob er einer war, der sich mit Hunden ins Bett gelegt hat und mit Flöhen aufgewacht ist. Oder am Ende doch der Direktor eines Flohzirkus. (DER STANDARD; Printausgabe, 8.9.2011)