Zehn Jahre lebte Giuseppe Di Bella (re.) im Zeugenschutzprogramm, sein Gesicht will er immer noch nicht zeigen. Gianluigi Nuzzi hat er in den vergangenen Jahren seine Lebensgeschichte erzählt.

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Standard: Was ist Ihrer Meinung nach das Schlimmste an der 'Ndrangheta?

Di Bella: Die Präpotenz. Wenn die 'Ndrangheta etwas möchte, eine Firma, ein Geschäft, dann tut sie alles dafür. Sie bringen jeden um, der sich querstellt.

Standard: Als Sie noch dabei waren, hatten da manche Leute Gewissensbisse?

Di Bella: (lacht) Nein. Wenn jemand umgebracht wurde, wurde gefeiert, dass der Mord gelungen ist. Wir sind essen gegangen und haben darauf angestoßen. Manchmal haben wir in der Disco beschlossen, jemanden umzubringen, haben das erledigt und sind wieder tanzen gegangen.

Standard: Woran liegt das? Kann man da einfach einen Schalter umlegen?

Di Bella: Ich kann das nicht erklären. Die Mitglieder leben alle in einer eigenen Welt. Jemanden töten ist wie eine Fliege erschlagen. Es gab bei uns einen, der hat mehr als 100 Morde begangen. Für ihn war das eine Freude, jemanden umzubringen, er war unglücklich, wenn er nicht gemordet hat.

Nuzzi: Sie müssen bedenken, dass diese Organisationen nicht nur durch das Verbrechen verbunden sind, sondern auch durch Blutsbande. Alle Ehen sind arrangiert, man heiratet unter Cousins ersten Grades, alle sind verwandt. Außerdem wird sehr viel Kokain genommen. Wenn Sie pro Tag mehrere Gramm schnupfen und in der Tasche Päckchen von 500er-Noten haben, dann werden Sie glauben, Sie sind ein Superheld.

Standard: Warum sind Sie zur 'Ndrangheta gegangen?

Di Bella: Es hat mir gefallen, dass ich leicht Geld verdienen konnte. Am Anfang habe ich je nach Aufträgen 500.000 Lire pro Monat verdient, später zwei Millionen. In sehr guten Monaten waren es aber auch schon einmal 200 Millionen (etwa 100.000 Euro, Anm.). Außerdem hat mich Coco Trovato (damals Boss der 'Ndrangheta in Lecco bei Mailand, Anm.) fasziniert. Ich war beeindruckt von seinem Mut, seiner Präpotenz, seiner Lust, Neues zu schaffen.

Standard: Sie waren Teil der Gründergeneration der 'Ndrangheta im Norditalien der 70er-Jahre. Wieso war sie dort so erfolgreich?

Di Bella: Weil der Norden nicht vorbereitet war und die 'Ndrangheta sehr viel Gewalt angewendet hat. Wenn sie ein Lokal haben wollte und es nicht bekommen hat, haben die Mitglieder es einfach angezündet.

Standard: Im Buch bringen Sie den Aufstieg der Lega Nord mit der 'Ndrangheta in Verbindung. Was für eine Rolle hat die Partei gespielt?

Nuzzi: Die Lega hat in den 1990ern plötzlich sehr viel Zustimmung bekommen. Die 'Ndrangheta hat immer Beziehungen zu den Parteien, die gerade mächtig sind. In einem abgehörten Gespräch hat ein 'Ndrangheta-Soldat seinen Vorgesetzten gefragt, ob sie nun rechts oder links seien. Die Antwort: Wir halten zu denen, die uns erlauben, Geschäfte zu machen.

Standard: Arbeitet die Organisation auch in Österreich?

Nuzzi: Bei aktuellen Ermittlungen kommt Wien als Treffpunkt für den Ankauf von Waffen vor. Es gibt einen Kronzeugen namens Judice, der darüber ausgesagt hat.

Standard: In letzter Zeit wurden zahlreiche Verdächtige verhaftet. Sind das Fortschritte im Kampf gegen die Mafia?

Nuzzi: Man kann nicht sagen: So viele wurden verhaftet, das ist ein Erfolg. Man muss die Geldflüsse verfolgen, wir brauchen ganz dringend die Möglichkeit, grenzübergreifend Geld und Güter zu beschlagnahmen. Die 'Ndrangheta hat Einheiten in Kapstadt, in Neuseeland, überall. Erst wenn wir ein einheitliches, europäisches Anti-Mafia-Gesetz haben, kann der Kampf gegen die Mafia beginnen. (Tobias Müller, DER STANDARD, Printausgabe, 8.9.2011)