Wiens feine Gesellschaft war am 20. Jänner 2000 am Philharmonikerball und tanzte - was sonst. Nicht dabei der Bundeskanzler, ein gewisser Viktor Klima; auch nicht der ÖVP-Obmann Wolfgang Schüssel. Die zwei verhandelten eher gegen- als miteinander; die ganze Nacht lang; während die FPÖ permanent und unsichtbar im Raum stand.

Noch einer wartete. Es war Thomas Klestil, damals noch auf der Hohen Warte wohnhaft. Er erwartete eine Einigung von Rot und Schwarz zwecks vernünftiger Fortsetzung vieler eingeleiteter Reformen. Was er nämlich fürchtete: dass sich Schwarze oder Rote so auseinandergelebt hatten und die "Lösung" nur durch die FPÖ erfolgen würde; eine Partei, die keine personelle Basis besaß, um mit einer kompetenten Mannschaft mitzutun - wie er im kleinen Kreis erläuterte.

Die bürgerliche Hautevolee im Goldenen Musikverein war zu diesem Zeitpunkt anderer Meinung: Er wird es den Roten schon zeigen, der Wolferl; man würde die Sozis bluten lassen. Und der Haider? Keine Sorge. Der würde sich schon domestizieren lassen, wäre erst einmal eine "Regierung neuen Stils" gebildet. Und die Europäer? Die gehe das nix an.

Um vier Uhr früh in dieser Nacht habe ihn Klima angerufen, erzählte der Bundespräsident später. Dessen Version: Die ÖVP hätte ihre Bedingungen mehr und mehr hinaufgeschraubt und zuletzt das Finanzministerium als "Beute" gefordert. Schüssel wolle ein Scheitern - so SP-Klimas Befund; der Außenminister seinerseits wollte einen Termin am nächsten Morgen in der Präsidentschaftskanzlei ...

Bürgerliche Kehrtwendung

Ich erinnere mich, wie Schüssel ohne Vorankündigung dann um neun Uhr mit dem kompletten Parteivorstand der ÖVP anrückte. Im Arbeitszimmer gab es gar nicht genügend Sitzgelegenheiten. Alle waren sie Du-Freunde des Bundespräsidenten, die meisten Kombattanten aus zwei Wahlkämpfen und CV-Cartellbrüder.

Die Atmosphäre war hochgespannt. Und Schüssel rückte keinen Millimeter von seiner Linie ab. Bis auf Bernhard Görg (ÖVP-Wien) sprachen sich alle ÖVP-Häuptlinge für einen Pakt mit Haider aus. Auch Klubobmann Andreas Khol, der noch vor der Nationalratswahl erklärt hatte, die FPÖ stünde außerhalb des "Verfassungsbogens".

Klestils Antwort hingegen: "Alles, nur nicht Schwarz-Blau." Dabei hatte der Schreibcomputer des Presse-Chefredakteurs schon den Leitartikel ausgespuckt: "Will Klestil putschen?" Das bürgerliche Lager hatte in wenigen Tagen eine unglaubliche Kehrtwendung gemacht. Größen wie der Verfassungsrechtler Günther Winkler, der ORF-Tiger Gerd Bacher, der Bauunternehmer Leopold Helbich und der steirische Rebell Gerhard Hirschmann waren angereist, um Schwarz-Blau bei Klestil reputabel zu machen.

Haider wiederum brach auf, die EU ordentlich zu beschimpfen; allen voran den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac. Was folgte, waren die Sanktionsbeschlüsse aller EU-Staaten - auch jener mit konservativen Regierungen.

Am 4. Februar lehnte Klestil die FPÖ-Ministerkandidaten Thomas Prinzhorn und Hilmar Kabas ab. Ein Hin und Her löste weiters die Forderung des Bundespräsidenten aus, die neue Regierung habe - "vor aller Welt" - eine "Präambel" zum europäischen Wertekatalog abzugeben. Internationale Schadensbegrenzung also. Ich erinnere mich auch, damals fast täglich "Strategiepapiere" fabriziert zu haben; ein Jura-Professor der Universität für Bodenkultur half mir dabei.

In diesen hektischen Tagen wiederholte der Bundespräsident in kleinem Kreis immer wieder den Kern seiner Bedenken. Bis zu seinem Tod hatte das "Problem" dafür einen Namen - Schüssel.

Und dabei hatte Klestil - der sein ganzes Leben in Österreichs diplomatischen Dienst verbracht hatte - seinerzeit Schüssel vorgeschlagen, er möge doch vom kranken Alois Mock das Außenministerium übernehmen. Nicht allein das Schüssel-Mascherl irritierte ihn, sondern er ärgerte sich wiederholt über den saloppen Dresscode des Außenministers. Es kam zu permanenten Reibereien. Klestil hielt Schüssel für außenpolitisch unbegabt; sein Vorschlag, doch einmal wöchentlich einen Jour fixe einzurichten, um die Reisediplomatie zu koordinieren, lehnte Schüssel kalt ab. Er selbst und seine Außenamts-Vertraute Benita Ferrero-Waldner kamen einfach nicht zu Klestils Staatsbesuchen; und für einen Pressesprecher war es nicht einfach, den Journalisten die psychologischen Verquerungen dieses "Wettlaufs" - sowie das politische "Lobbying" - zu interpretieren.

Offen sichtbar für alle Welt wurde die Krise während der Angelobung der schwarz-blauen Regierung am 4. Februar. Klestil blickte mit starrem Blick auf die Szene, als ginge sie ihn nichts an. Noch zuvor hatte er - wörtlich - den Parteigranden der ÖVP erklärt: "Ich lasse mir nicht den Vorwurf machen, ich hätte nicht aufmerksam gemacht ... Aber es wird sehr sehr schwierig im In- und Ausland sein."

Während vor den Fenstern der Hofburg das größte Polizeiaufgebot der Zweiten Republik aufmarschierte, um vor den Linsen hunderter TV-Kameras den Ballhausplatz von Demonstranten zu säubern, standen hilflose Newcomer im Maria-Theresien-Zimmer - aus heutiger Sicht: Nobodys. Wer erinnert sich an die Damen Sickl, Rossmann, Forstinger, Gastinger - oder die Herren Krüger, Schmid, Waneck?

Klestil erklärte später: "Ich bin ein Mensch, der trotz so vieler Jahre in der Politik (...) ein Mensch geblieben ist, dem man aber ansieht, ob er sich freut oder Sorge hat. Ich trage keine Maske (...) Dass mir aber die Sorge um das Land ins Gesicht geschrieben war, ist eigentlich nicht verwunderlich."

Stehsatz von einem Mann, der recht behalten hatte - aber es nicht erlebte: "Der Schüssel hat eine blaue Handgranate in der Hosentasche. Sie kann jederzeit hochgehen."(Hans Magenschab, DER STANDARD; Printausgabe, 8.9.2011)