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Matthias Hartmann entziffert Kleists Lustspiel.
Frau Marthe Rulls Krug zerschmettert, der Ruf eines Mädchens ruiniert, ein honoriger Dorfrichter, der über sich selbst zu Gericht sitzt, als Täter entlarvt: Heinrich von Kleists "Lustspiel" Der zerbrochne Krug (1806) steckt voller Finten und Finessen. Kleist, der den Stoff einem Kupferstich entnommen hat, reichert das Geschehen in dem niederländischen Bauernflecken Huisum mit Bibelmotiven an. Richter Adam mit dem missgeschaffenen Fuß stellt dem Mädchen Eve nach. Dieser arme erste Mensch dringt zur Abendstunde in ihre Kammer ein.
Adam wird auf frischer Tat von Eves Verlobtem Ruprecht ertappt: Er nimmt durch das Fenster Reißaus, wobei der Krug vom Kaminsims herunterkracht. Ruprecht, der dem Ruhestörer hinterdreinschlägt, richtet den unerbetenen Rivalen übel zu. Im Zuge seiner Flucht geht Adam auch noch die Perücke verloren. Ein Bild des Jammers: Adams Schuld wird unter dem Zutun des Schreibers "Licht" und des Obergerichtsrates "Walter" stückchenweise aufgedeckt.
Der zerbrochne Krug hat pünktlich zum Kleist-Jahr am Sonntag im Wiener Akademietheater Premiere: Burgdirektor Matthias Hartmann führt Regie, den Dorfrichter spielt Michael Maertens. Wir baten Hartmann um seine Version des schwer entwirrbaren Geschehens: Ist Adam ein armer Teufel in allzu menschlicher Gestalt?
Hartmann: "Wir sprechen immer wieder über klassische Texte vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher Bedingungen. Es zeigt sich immer wieder, wie vielzüngig und belastbar die großen Klassiker sind. Wenn ein Kunstwerk rein gültig ist, so besitzt es die Eigenschaft, noch jenseits der Intention des Autors etwas über sich Hinausweisendes auszusagen."
Hartmann weiter: "Etwas so Vielzüngiges wie der Zerbrochne Krug ist mir aber kaum jemals begegnet. Ich werde als Regisseur daher anders vorgehen: Ich werde nicht, um meiner spezifischen Intention Raum zu geben, alles andere wegschälen. Um zu behaupten: Es geht nur so! Klaus Maria Brandauer hat einmal gesagt, welche ungeheure Lust es ihm als Dorfrichter Adam bereite, heute einmal diese Fährte, morgen eine andere zu verfolgen. Es gibt aber eine bestimmte Fährte, die mir großen Spaß macht und die ich nicht in Ruhe lassen kann."
"Das ergibt sich aufgrund einer kriminalistischen Ungereimtheit. Wenn Frau Marthe Rull von ihrer Tochter im Stich gelassen wird, weil Eve nicht spricht, damit aber Marthes Hausstand in diesem kleinen Gemeinwesen zum Hurenhaus wird, da muss sie sich eines anderen Mittels befleißigen. Da weiß sie, dass ihr Brigitte aus der Patsche helfen wird. "
Besagte Frau Brigitte wird zur Zeugin aufgerufen. Hartmann: "Marthe geht fix und fest davon aus, dass Brigitte gegen Ruprecht zeugen wird (Brigitte ist die Tante Ruprechts). Wie kommt Marthe zu dieser Information? Da gibt es keinen Hinweis. Wenn man das Stück genau durchkämmt, stellt man Folgendes fest: Marthe hat im Bett geschlafen und wurde gegen elf von Männerstimmen geweckt. Sie stürzte zum Schauplatz und fand den Ruprecht vor, der nun seinerseits behauptete, es wäre ein Dritter dagewesen, von dem er nur noch die Rockschöße gesehen hätte. Sie verdächtigt zu Recht den Ruprecht, dass er den Krug kaputtgemacht hat. Es wäre für alle die beste Lösung, denn wenn ein Dritter da ist, ist alles nur noch katastrophal. Wenn der Bräutigam herummarodiert, geht vielleicht der Krug kaputt. Mit einem Dritten ist es eine Katastrophe für ihr Ansehen. Als jetzt aber die Tochter sagt, der Ruprecht ist es nicht gewesen, muss es tatsächlich jemand anderer gewesen sein. Jetzt zieht Marthe Rull Brigitte hinzu, weil sie sich zu 100 Prozent sicher ist: Brigitte wird gegen Ruprecht zeugen. Schön: Die Tochter ist so blöd, ihn zu decken - aus Marthes Bewusstsein heraus. Aber sie kann einen Joker aus dem Hut zaubern: in der Person von Brigitte."
"Jetzt kommt Brigitte - und zeugt aber nicht gegen Ruprecht! Hat sich Marthe in ihr also getäuscht? Ich denke, der Kleist baut so genau und so gut, der kann sich da nicht getäuscht haben. Der will eine andere Interpretation ermöglichen. Was mir Spaß macht, ist, dass die Brigitte kommt, mit dem Schreiber Licht - die beiden haben sich abgesprochen. Sie erzählt die Teufelsfabel nicht, weil sie glaubt, dass das wirklich der Teufel gewesen ist. Es ist dies die einzige Art, wie das Dorf gegen die Obrigkeit rebellieren kann. Die Obrigkeit tritt auf in der Person von Adam, geschützt durch die Instanz der Justiz, die auch politisch zu verstehen ist, weil sie Willkür übt."
"Die Dorfgemeinschaft hat keine Chance. Adam hat einen missgeschaffenen Fuß - und keiner traut sich, es zu sagen. Also wird eine kleine Rebellion angezettelt. Sie sind nur so imstande, Adam wegzukriegen, auf diese subversive Art, in dem Versuch, ihn zur Selbstenttarnung zu treiben. Es geht Adam wie vielen Despoten, die nicht glauben können, dass ihr Niedergang tatsächlich stattfindet. Die Ahnengalerie reicht von Nero über Hitler bis Gaddafi." (Ronald Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 9.9.2011)