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Einschlag im Südturm. Viele kamen in der Staubwolke der umstürzenden Zwillingstürme nur knapp mit dem Leben davon.

Foto: Reuters/Sara K. Schwittek

DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe 9/11

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Sie sind selbst knapp mit dem Leben davongekommen, haben ihre Kollegen sterben sehen, ihre Liebsten am Ground Zero verloren - auch zum zehnten Jahrestag leiden noch tausende Amerikaner am 9/11-Trauma.

Wenn Leokadia Glogowski vom 11. September erzählt, beginnt sie mit Kleinigkeiten, mit scheinbar nebensächlichen Episoden, die erst im Nachhinein eine tiefere Bedeutung bekamen, wie fast alles an diesem Tag.

Um sechs Uhr früh stand sie auf, ihr Mann Marek machte frischen Kaffee, dann saßen sie eine Weile beim Frühstück zusammen und überlegten, was sie abends kochen sollten. Marek ging vor Leokadia aus der Wohnung, um das Auto aus der Garage zu holen. So machten sie es immer. Marek arbeitete im Norden Manhattans, das World Trade Center lag am Weg, meist setzte er Leokadia dort ab. Pendlerroutine. An diesem Morgen, sagt Leokadia, überlegte sie kurz, welche Schuhe sie anziehen sollte. Erst wählte sie welche mit hohen Absätzen, einen hatte sie schon am Fuß, als ihr Blick auf ein Paar flache Schuhe fiel. "Irgendeine Stimme riet mir, nimm die bequemen. Das habe ich getan. Als ob ich geahnt hätte, dass ich noch weit gehen muss an diesem Tag."

Um halb acht saß Leokadia in ihrem Büro, Nordturm, 82. Etage. Draußen ein strahlend blauer Himmel, eine herrliche Aussicht. An schönen Tagen, scherzt sie, konnte sie aus dieser Höhe fast bis nach Zielona Góra schauen, in ihre polnische Heimat. Dann vertiefte sich die Bauingenieurin in die Arbeit an ihrem Computer.

New York, das war die Stadt, die Leokadia Glogowski mit offenen Armen empfing. Als sie Polen in den Achtzigerjahren verließ, ausgereist als Touristin und nicht zurückgekehrt, wollte sie eigentlich in Deutschland Fuß fassen. Aber sie bekam keinen Daueraufenthalt, daher bewarb sie sich in Amerika um eine Greencard, hatte Glück und zog 1989 nach New York. Dort lernte sie Englisch, absolvierte ein Zusatzstudium und bekam einen Job bei der städtischen Transportbehörde, im World Trade Center, wo sie manchmal zwischen den Wolken saß und nicht wusste, ob es unten regnete. Sie war stolz auf den Turm, er war so etwas wie der Mount Everest ihrer Karriere.

Um 8.46 Uhr wurde die Stille durchbrochen von einem gewaltigen Knall, "ungefähr so, als würde Beton brechen und zugleich ein Orkan toben" . Der Turm begann sich zu neigen, so stark, dass sie dachte, er würde umfallen. Nach ein paar Sekunden schwankte er zurück in die andere Richtung, wie das Pendel einer Uhr. Ein Erdbeben, dachte Leokadia im ersten Schreck. "Raus! Alle raus!" , schrie Tony, ein Kollege.

Länger als eine Stunde brauchte sie, um die Treppe hinabzusteigen. Anfangs ging es schnell, da das brennende Flugzeug, eingeschlagen zwischen dem 93. und dem 99. Stock, den Menschen aus den höchsten Etagen den Weg versperrte und andere noch in ihren Büros ausharrten, um auf offizielle Durchsagen zu warten. Zügig die Stufen hinunter, bis zur Sky-Lobby im 44. Stock, wo Sicherheitsleute Anweisung gaben, das Treppenhaus zu wechseln. In der Sky-Lobby, einer der beiden Etagen, in denen man von den schnellen in die langsamen Fahrstühle umstieg, konnte sie durch Fenster ins Freie sehen. Während andere bemerkten, wie draußen Menschen vorbeiflogen, Verzweifelte, die den Sprung dem Tod durch Verbrennen vorzogen, sah Leokadia nur Papier durch die Luft wirbeln. "Ich hatte Glück, der grausame Anblick springender Menschen blieb mir erspart."

"Was ist das? Ein Gewitter?"

Auf der anderen Treppe ging es nur noch sehr langsam voran, ab der 20. Etage begegneten ihr die ersten Feuerwehrleute, schwitzende Männer in schweren Monturen, denen sie alle unter aufmunternden Zurufen den Weg freimachten. Dass die Türme zu Schuttbergen zerfallen würden, konnte sich da noch keiner vorstellen, sagt Leokadia. Die Fliehenden auf der Treppe hatten ja keine Ahnung, was passiert war. Jeder, der irgendwo vor einem Fernseher saß, wusste es besser. Drinnen im dunklen Nordturm sprach jemand von einem Privatflugzeug, ein anderer von einer umgeknickten Antenne. Als das zweite Flugzeug in den benachbarten Südturm krachte, fragte einer: "Was ist das? Ein Gewitter?" "Das konnte nicht sein, das Wetter war ja so schön. Wir konnten eben nicht mehr klar denken."

Kaum war sie draußen und sah die beiden Wolkenkratzer qualmen, wollte Leokadia nur weg. Sie rannte nach Osten, zur Brooklyn Bridge. Sie hatte die Brücke noch nicht erreicht, da fiel der Südturm in einer mächtigen Geröllwolke zusammen. Was sich in ihr Gedächtnis einbrannte, war das Geräusch. "Pap-pap-pap-pap-pap, so merkwürdig, in Stufen." Ein junges Paar sprach vom Angriff auf Amerika. Als sie fassungslos nachfragte, erntete sie ungläubige Blicke. Was, diese Ahnungslose weiß nichts von den Anschlägen? Wo kommt die überhaupt her? Auf dem Heimweg, gut zwölf Kilometer zu Fuß, probierte sie jede Telefonzelle aus, im Mobilfunknetz ging ja nichts mehr, und irgendwann fand sie eine, die funktionierte. Marek hatte vier Stunden auf den Anruf gewartet, die längsten vier Stunden seines Lebens. Nachts legten sich Marek und Michal, der Sohn der Glogowskis, neben Leokadia ins Bett, jeder an eine Seite. "Sie hielten meine Hände, und so schliefen sie ein. Ich dagegen lag drei Nächte wach."

Mickey Kross ist ein Nervenbündel, ständig in fahriger Bewegung. Mal rennt er zu einem Regal, um Bücher herauszuziehen, in deren Register sein Name steht. Mal will er rauchen und vergisst die Zigarette gleich wieder. "Er müsste endlich loslassen, mal wieder ins Kino gehen, zum Baseball oder in ein Museum. Er war so gern in Museen" , meint Christine Gonda, seine Lebensgefährtin. "Das Leben kann doch nicht nur aus dem 11. September bestehen. Er ist förmlich besessen vom 11. September."

Kein Wunder, denn der Feuerwehrleutnant Mickey Kross hat den Tag mitten im Nordturm überlebt, in der Schuttlawine des einstürzenden Turms. Als er eintraf, erinnerte ihn der zwar qualmende, aber noch stehende Riese an die Szene eines Gruselfilms, "wenn das Monster den Fluss überquert, und alle schreien, rennen und stolpern" . Beim Hinaufsteigen traf er irgendwann Josephine Harris, eine Buchhalterin der Hafenbehörde. Die übergewichtige Frau musste nach jeder Stufe stehen bleiben, ihre Beine schmerzten zu sehr. Nur ein Mann war noch bei ihr im fast leeren Treppenhaus C. Ungeduldig rief Kross den beiden zu, sie sollten ins Treppenhaus B hinübergehen, dort seien Leute, die könnten helfen. Schließlich schleppten Feuerwehrmänner Josephine Harris die Treppe hinunter. Plötzlich ohrenbetäubender Krach und "ein Gefühl, als ob du auf Gleisen stehst und eine Lokomotive auf dich zurast" , so beschreibt es Kross.

Das Nächste, woran er sich erinnern kann, ist, dass er auf der Treppe lag, in einer Höhle aus verbogenem Eisen und kaputtem Beton. Erst konnte er die Augen nicht öffnen, wegen des Drecks, der sich wie Pfefferspray in die Augen fraß. Dann erblickte er Arme und Beine, die sich bewegten. Irgendwann fanden die Verschütteten ein Loch, durch das sie nach draußen klettern konnten, etwa in Höhe des fünften Stocks. "Ich weiß nicht, wie ich das überleben konnte" , sagt Mickey Kross und fährt sich nervös durchs bürstenkurze Haar. Er mache Sachen, die ihm früher nie in den Sinn gekommen wären, fügt Christine Gonda hinzu. Früher kaufte er immer Gebrauchtwagen, möglichst billig, für höchstens 600 Dollar. Und auf einmal, ohne groß nachzudenken, einen nagelneuen Ford Taurus, nach der Devise, dass es Wichtigeres gibt, als Geld zu sparen.

Für Maureen Mitchell war es der erste Schultag. Der Unterricht auf Staten Island hatte gerade begonnen, neue Schüler, ein neues Klassenzimmer. Ihre Welt wurde an diesem Tag aus den Angeln gehoben, obwohl es weit weniger dramatisch begann als bei Leokadia Glogowski. Erst nachdem die zweite Maschine in die Zwillingstürme gestürzt war, merkte die Grundschullehrerin, dass etwas nicht stimmte. Die ersten besorgten Mütter kamen, um ihre Kinder zu holen. Ihr Ehemann Paul, das wusste sie, hatte morgens gegen acht seine Schicht beendet, im Süden Manhattans an der Canal Street. Was Maureen am Morgen nicht wissen konnte, war, dass er nach Schichtschluss kehrtmachte und zum World Trade Center fuhr, auf eigene Faust. Auf dem Heimweg hatte er im Radio vom brennenden Nordturm gehört, was ihn veranlasste, sofort an seiner alten Feuerwache in Brooklyn anzuhalten. Dort schnappte er sich eine Ausrüstung und raste zum Brand.

Der Anruf kam nicht

Anfangs machte sich Maureen keine Sorgen, "ich wusste ja, dass Paul etwas vom Löschen verstand" . Daheim setzte sie sich neben das Telefon und wartete auf den Anruf, mit dem sich hoffentlich alles aufklären würde. "Ehrlich gesagt, war ich ziemlich ruhig." Der Wendepunkt kam Abend, gegen 20 Uhr. Da blendeten sie im Fernsehen eine Telefonnummer ein. Wessen Angehörige noch nicht heimgekehrt waren, sollte dort anrufen. Paul wurde auf eine Vermisstenliste gesetzt, da er sich nirgends gemeldet hatte. Doch hoffnungslos klang es nicht. Auch als sie in den Tagen danach nichts über Paul erfuhr, rechnete Maureen nicht damit, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Schließlich setzte sie sich eine Frist, den 15. Oktober. Sollte sie bis dahin nichts hören, würde sie eine Trauerfeier ansetzen.

Die fand am 2. November statt, in einer Kirche auf Staten Island, eine Dudelsackkapelle spielte, "es war sehr schön, eine Feier seines Lebens" . Einen Leichnam gab es nicht zu bestatten, nicht einmal Teile einer Leiche. Jemand schlug ihr vor, anstelle ihres Mannes einen Helm zu begraben, als symbolischen Ersatz. "Das funktioniert aber nicht" , sagt Maureen. Noch klammert sie sich an die Hoffnung, dass irgendwann irgendwer vielleicht etwas findet, einen Knochensplitter oder eine Fingerkuppe, was mit der DNA ihres Mannes übereinstimmt. Noch sind 1122 Opfer der Anschläge nicht identifiziert, noch haben die Forensiker keinen Schlussstrich gezogen. "Wer weiß, die Methoden werden ja immer besser."

Ihren Job als Lehrerin hat Maureen Mitchell im Juni an den Nagel gehängt, es ging einfach nicht mehr. Über Paul kann sie nicht lange sprechen, ohne ins Stocken zu geraten. Die Gedenkfeiern zum Jahrestag sind nicht nach ihrem Geschmack, sie wird nicht hingehen, sie mag "keine Fanfaren, kein Pathos" . Außerdem, was mache es schon für einen Unterschied, ob die Tragödie nun zehn Jahre zurückliege oder fünf oder acht. Lieber wird Maureen mit Pauls alten Kumpels reden, und natürlich mit ihren Töchtern. Christine arbeitet bei Google in London, Jennifer bei einem Hedgefonds in Manhattan, in einem Glasturm. "Manchmal habe ich Angst um Jennifer. Aber wir müssen ja weiterleben."

Reden als Therapie

Leokadia Glogowski versucht das Trauma zu verarbeiten, indem sie kleine Besuchergruppen an den Ort des Geschehens führt, einmal um die Baustelle von Ground Zero herum. Richtig aufgekratzt wirkt sie, wenn sie hinter den Panoramafenstern der American-Express-Zentrale den Bienenstock zu ihren Füßen erklärt. Das Erzählen, sagt Leokadia, sei ihre Therapie. Sie ist empfindlich geworden gegen laute Geräusche. Schlägt jemand eine Tür zu, springt sie auf, als müsse sie fliehen. Riecht es irgendwo streng nach Chemikalien, muss sie unwillkürlich ans World Trade Center denken. Auch die Türme rochen nach giftiger Chemie und verbranntem Gummi, nachdem sie eingestürzt waren.

Einmal, sie hatte daheim in Brooklyn die Fenster geöffnet, zog von draußen ein Gestank herein, der sie an den 11. September erinnerte. Sofort schreckte sie auf: eine Terrorattacke! Marek stellte den Fernseher an, in den New Yorker Lokalnachrichten berichteten sie über den Brand eines Gebäudes mit vielen Computern, daher der Geruch.

Für Leokadia Glogowski war es eine gute Nachricht. (DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.9.2011)