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Lakhdar Brahimi bei der Petersberg-Konferenz in Bonn im November 2001, als die politischen Geschicke Afghanistans bestimmt wurden. Kurz danach ging der Algerier zum zweiten Mal für die Uno nach Kabul.

Foto: Reuters/Rattay

DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe 9/11

Gudrun Harrer stellte fest, dass sogar für einen Insider wie ihn viele Fragen offen sind.

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Standard: Wo waren Sie 9/11?

Brahimi: Ich war hier, in meiner Wohnung in Paris. Meine Tochter, die bei CNN arbeitete, rief mich an und sagte nur: "Schalte CNN ein". Ich dachte, sie sei auf Sendung, und dann sah ich das Flugzeug in den zweiten Turm fliegen, wie Millionen anderer Menschen auch. Und buchstäblich am Tag danach kam der Anruf mit der Bitte, ich solle meinen Job für die Uno in Afghanistan wiederaufnehmen. Wie Sie wissen, war ich im Herbst 1999 als Sondergesandter zurückgetreten, aus Protest, wegen mangelnder Unterstützung für unsere Arbeit.

Standard: Konnten Sie, was Sie auf CNN sahen, sofort einordnen?

Brahimi: Der Verdacht - Araber und Al-Kaida - war da. Die Anschläge auf die US-Botschaften in Afrika lagen ja bereits hinter uns. Und ich hatte schon 1998 als Uno-Diplomat den Taliban gesagt, dass ihre "Freunde", Al-Kaida, eine Agenda haben, die nichts mit Afghanistan zu tun hat und dem Land sehr schaden wird.

Standard: Was haben die Taliban Ihnen damals geantwortet?

Brahimi: Dass die ihre Gäste sind, in deren Schuld sie stehen, weil sie - gemeinsam mit den Amerikanern übrigens - geholfen haben, die Sowjets zu bekämpfen. Ich sagte ihnen, dass ich aus derselben Tradition der Gastfreundschaft komme, aber dass es auch heißt: "Der Gast ist der Herr deines Hauses - bevor er beginnt, deine Nachbarn zu beleidigen." Jedenfalls hatten die Taliban mit dem nichts zu tun, was Al-Kaida außerhalb Afghanistans trieb.

Standard: Aber seit 9/11 sind die Taliban und Al-Kaida für den Westen ein und dasselbe.

Brahimi: Das war der erste große Fehler, der begangen wurde. Taliban und Al-Kaida waren immer zwei unterschiedliche Gruppen, zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Ausmaß alliiert, aber die Welt - mit der Ausnahme Pakistans vielleicht - hat für die Taliban nicht existiert. Ab einem gewissen Moment hat ein Teil der Taliban auch verstanden, dass Al-Kaida Afghanistan schadet, zur Zeit von 9/11 waren sie in dieser Frage klar gespalten.

Standard: Aber letztlich haben sie sich um Al-Kaida geschart.

Brahimi: Es gibt noch eine ganze Menge Unklarheiten die Zeit zwischen 9/11 und dem US-Angriff auf Afghanistan im Oktober betreffend. Wir wissen noch bei weitem nicht alles darüber: mit wem die USA geredet haben, wen sie als Vermittler benützt haben. Es hat Kräfte gegeben, die von den USA mehr Zeit wollten, um die Taliban dazu zu bringen, Osama Bin Laden auszuliefern. Und ich habe den Verdacht, dass es ebenso Kräfte gegeben hat, die das hintertrieben haben.

Standard: Also Kräfte, die unbedingt den Krieg wollten?

Brahimi: Das weiß ich nicht, aber ich weiß, dass die Amerikaner, hätten sie Bin Laden bekommen, Afghanistan in Ruhe gelassen hätten. Es ging den USA um Rache, nicht um Afghanistan. Mental waren sie längst im Irak, der hat sie interessiert. Genau das war ja eines unserer Probleme in Afghanistan. Bereits am 17. September fand das erste Treffen in Washington zum Irakkrieg statt. Das haben wir aber erst viel später erfahren.

Standard: Aber es war ja auch nicht gerade moralisch falsch, die Taliban zu stürzen.

Brahimi: Sicher, aber es kommt darauf an, was Sie an deren Stelle einsetzen. Wenn man einfach jene zurückbringt, die von den Taliban geschlagen wurden: die Nordallianz, die Afghanistan vor den Taliban regiert hat und bei den Menschen noch verhasster war als die Taliban ... Das haben wir gemacht, und zehn Jahre später schaut das nicht gut aus.

Standard: Aber Präsident Hamid Karzai zumindest war ein neues Gesicht?

Brahimi: Aber er hatte keinerlei Basis, er war eine Art Gefangener. Als er in Kabul ankam, hatte die Nordallianz allein im Präsidentenbüro 1200 der eigenen Leute installiert. Aber das ist eine eigene Geschichte ... Jedenfalls, die USA waren in Afghanistan nur an Rache interessiert, sie haben reagiert wie ein angegriffener Stamm: "Ihr werdet mit Blut dafür bezahlen, dass ihr uns angegriffen habt." Und wir - die Uno - haben fälschlicherweise gedacht, dass sie interessiert daran wären, Afghanistan so zu verändern, dass es nicht mehr der Ausgangspunkt für solche Attacken sein würde. Das heißt, den Afghanen zu helfen, ihr Land aufzubauen.

Standard: Jeder US-Politiker würde Ihnen sagen, dass die USA das sehr wohl getan haben.

Brahimi: Das große strategische Ziel der USA war der Irak, von Anfang an. Schauen Sie, die Uno hat den Nachteil, dass sie selbst ein offenes Buch ist, aber ihrerseits wenig über die wahren Absichten ihrer Mitgliedsländer weiß. Wir wissen immer nur, was uns erzählt wird. Und in diesem Fall stimmte eben nicht, was gesagt wurde. Die Entscheidungen lagen immer bei Leuten, die sagten: "Die USA machen kein Nation-Building."

Hinzu kam, dass wir in Bonn (bei der Afghanistan-Konferenz im November 2001, Anm.) nur mit den Leuten gesprochen haben, die fünf Prozent des Landes kontrollierten. Mir war das bewusst, und ich habe ihnen gesagt: "Wenn wir zurück nach Kabul gehen und die Regierung auf eine breite Basis stellen, dann wird man vergessen, dass ihr nicht repräsentativ seid." Aber auch daran war niemand - und nicht nur die USA nicht - interessiert. Es hieß nur, die Taliban seien "erledigt".

Standard: Das waren, wie Sie sagen, die "Erbsünden" ...

Brahimi: Und dass die Isaf (die Nato-geführte International Security Assistance Force, Anm.) nicht genug Soldaten bekommen hat. Ich selbst habe hier, in Frankreich, und in Großbritannien darum gebeten. Hinter vorgehaltener Hand wurde mir gesagt, das machen wir nur, wenn uns die USA darum bitten. Die USA waren aber an der Isaf gar nicht interessiert. Sie waren psychologisch und politisch längst im Irak.

Standard: Sie selbst haben 2004 Afghanistan verlassen und wurden von Kofi Annan in den Irak geschickt. Können Sie die große Frage beantworten, was genau die USA im Irak gesucht haben?

Brahimi: Ich habe diese Frage hundertmal mir selbst und anderen gestellt, und ich habe nie eine befriedigende Antwort darauf gefunden. Nach den nichtexistenten Massenvernichtungswaffen war plötzlich die Demokratie der Kriegsgrund - und Leute wie Dick Cheney werden wahrscheinlich sagen, dass der Arabische Frühling eine Spätfolge der Irak-Invasion ist. Das ist blanker Unsinn.

Standard: Als Modell kann der Irak wirklich nicht dienen.

Brahimi: Der Irak macht es für die Demokratie in der arabischen Welt nur noch schwerer, ein abschreckendes Beispiel. Jemand hat einmal gesagt, dass im Irak allein die Korruption demokratisiert wurde. Acht Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins haben sie noch immer nicht so viel Elektrizität wie davor, in der Sanktionszeit. Und wenn, was ich hoffe, aus dem Irak einmal eine wirkliche Demokratie wird, dann können die USA das nicht für sich beanspruchen. Sie haben dort nur zerstört. Die Iraker schulden ihnen nichts. Wir brauchen eine internationale Kommission, die aufklärt, was da alles passiert ist - etwa als das große Töten des Bürgerkriegs begann und nicht gestoppt wurde. Und heute wird so getan, als hätte das alles nicht stattgefunden.

Standard: Sie sagen, dass die USA von Beginn an nur am Irak interessiert waren, und doch war das Vorgehen dem in Afghanistan ähnlich. Wie erklären Sie sich die schweren Fehlentscheidungen?

Brahimi: Ich möchte darüber nicht einmal spekulieren. Was immer man sich vorstellt, es macht einfach keinen Sinn. Bagdad war voll von weißhaarigen US-Diplomaten, die schönes Arabisch sprachen und die Region verstanden - und auf die niemand in Washington gehört hat. Ach, die vielen Experten, die gesagt haben: "Löst nur ja die irakische Armee nicht auf, das ist das Rückgrat der Gesellschaft." Und es war das erste, was sie getan haben. Es waren einige amerikanische Likud-Leute bei den Irak-Entscheidungen dabei, für sie mag Israel eine Rolle gespielt haben - aber auch Israel hätte das nicht gebraucht, im Gegenteil, es leidet selbst darunter, unter anderem, weil die USA unwiderruflich beschädigt sind.

Standard: Und am meisten unter dem paradoxesten Ergebnis des Irakkriegs: dem Aufstieg des Iran.

Brahimi: In der Tat. Das ist das wichtigste Resultat. Und das kann man doch nicht rational erklären!

Standard: Glauben Sie, dass da doch ein großer Plan dahintersteckt, oder ist es pure Hilflosigkeit?

Brahimi: Aus der Ferne glaubt man, die USA, so ein großes mächtiges Land, die wissen, was sie tun, die haben Pläne. Und dann kommst du näher und siehst, das stimmt gar nicht. Und du redest mit ihnen und freust dich im ersten Moment sogar, dass die auch nicht klüger sind als du selbst. Aber dann kommt der Schrecken: Um Himmels willen, und diese Leute bestimmen die Geschicke der Welt!

Ich habe mit den Amerikanern gearbeitet und sie beobachtet, und ich verstehe heute besser, wie sie funktionieren. Das ist ein Gewinn für mich. Aber ich muss Ihnen sagen: Ich bin nicht beeindruckt - sondern vor allem beunruhigt. (Das Gespräch führte Gudrun Harrer. STANDARD-Album-Printausgabe, 10./11.9.2011)