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Die neue große Freiheit: Ägyptische Salafis demonstrieren nach der Tötung Osama Bin Ladens Anfang Mai 2011 vor der US-Botschaft.

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DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe 9/11

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Ob ihr deren Beseitigung als "Befreiung" genügt, wird man noch sehen.

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Und im zehnten Jahr nach 9/11 brach das aus, was wir etwas herablassend den "Arabischen Frühling" nennen. In das Gedenken an die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind die Umbruchbewegungen in der arabischen Welt gar nicht so leicht zu integrieren. Denn gerade im September 2011 wissen wir - außer ein paar unbeirrbaren Revolutionsromantikern natürlich - gerade nicht so recht, was wir von ihnen halten sollen.

Die Länder, wo es relativ leicht ging, Tunesien und Ägypten, fragen sich ernüchtert, ob das denn nun wirklich eine Revolution war, und wenn ja, wer sie "gewonnen" hat. Und bei den anderen Staaten, in denen die Regime noch nicht ganz beseitigt oder noch zu stürzen sind - denn da sind wir uns einig, weg gehören sie -, mischt sich in die Hoffnung eine gewisse Sorge, was danach kommt.

Und diese Sorge hat dann wieder ziemlich viel mit 9/11 zu tun. Möglichst lang hielten wir uns nur an das, was wir im Fernsehen sahen. Junge und moderne Leute, die Freiheit und ihre Rechte einforderten und keine US-Flaggen verbrannten, wie Reporter und Reporterinnen nicht zu betonen müde wurden, als sei damit fast alles über den Charakter der Revolution gesagt. Und Israel ist denen auch ganz egal. Oder?

Lakhdar Brahimi, der algerische Uno-Diplomat, der die Aufgabe hatte, nach dem auf 9/11 folgenden US-Krieg in Afghanistan und im Irak die Scherben zusammenzukehren, lehnt den Gedanken ab, dass 9/11 die arabische Welt dem Westen durch die Auseinandersetzung miteinander doch irgendwie näher gerückt hat - was den Wunsch nach einem Wandel verstärkte. Er weist darauf hin, dass es zwischen den vielen arabischen "Frühlings" -Anhängern kaum einen Konsens gibt, wie der "Change" denn aussehen sollte, was genau nach der Demontage der postkolonialistischen Regime kommen sollte.

Und er fürchtet, dass sich am Ende für jene, die den jungen Leuten auf dem Weg in die politische Moderne doch nicht so bedingungslos folgen wollen, ein Offert als stärkstes erweist: das der Salafis (oder Salafiten, Salafisten, wie man will - der Begriff Salaf bezeichnet die Gefährten des Propheten Muhammad, als die würdigen "Vorfahren" , die es nachzuahmen gilt), also derjenigen, die eine islamische Antwort auf alle Fragen geben. "Wir machen es wie der Westen und sagen ihnen, wie schlecht die Salafis sind. Aber was bieten wir ihnen?"

Der im algeri-schen Unabhängigkeitskampf sowie der Blockfreien-Bewegung sozialisierte Brahimi erinnert daran, dass auch im Algerienkrieg manche nicht "gegen die Franzosen" , sondern "für den Islam" gekämpft haben. Aber niemand habe damals auf sie gehört, denn da war eine an-dere Hoffnung. Ist sie heute, in der postmodernen Welt, stark genug?

Und in welcher Beziehung stehen diese Salafis, die auf der Welle der Revolution reitend aufgetaucht sind, zu 9/11? Sind sie eine Konkurrenz für den globalen Jihad und dessen Faszination? Um es ganz platt zu fragen: Ist der "Arabische Frühling" nun gut oder schlecht für Al-Kaida?

Schlecht ist natürlich die auf der Hand liegende Antwort (auch wenn etwa im Chaos in Libyen einige Waffen an sie abfallen werden): Die Regime, die jetzt gestürzt werden, waren auch Al-Kaida ein Dorn im Auge - mit wenig Erfolg. Wird Al-Kaida sich nun applaudierend auf die verbliebenen Schlachtfelder zurückziehen? Oder versuchen, die Zukunft der befreiten Länder mitzugestalten?

Brynjar Lia definiert 2008 (Al-Qaida's Appeal, in Perspectives on Terrorism) als eine Schwäche Al-Kaidas, dass sie "nicht fähig oder willens erscheint, sich auf einen zukünftigen Einstieg in die Politik vorzubereiten" . Das Einzige, was Al-Kaida im Repertoire hat, ist der Kampf mit den Mitteln der Gewalt. Und Gewalt ist bei den jungen Leuten auf den tatsächlichen und virtuellen Tahrir-Plätzen aber so etwas von out!

Al-Kaida kann ihren Sympathisanten auch deshalb keinerlei Antwort darauf geben, was nach dem Sturz der Tyrannen eigentlich genau kommen soll, weil sie schlicht keinen Plan hat, keine politische Vision. Die kleinen abgeschlossenen, ihre Sehnsucht nach frühislamischen Zeiten - die es so nie gegeben hat - auslebenden Kommunen, zu denen letztlich auch die Taliban in Afghanistan gehörten (auch wenn sie einen ganzen Staat ihr Eigen nannten), können ja wohl kein Modell sein.

Lia führt jedoch an, dass die Einfachheit der Botschaft, das Fehlen großer Entwürfe, ja andererseits wieder eine der Stärken Al-Kaidas war (ist): Anders als die verkopften islamistischen Ideologen mit ihren komplizierten Konzepten eines islamischen Staates ist die Botschaft von Al-Kaida simpel und populistisch: Der Islam wird angegriffen - militärisch, religiös und ökonomisch - und darum müssen wir ihn verteidigen. Dafür opfert man eher sein Leben als für abstrakte Entwürfe.

Hinzu kommt, so Lia, das "coole" Image - das ebenfalls im Gegensatz zu dem steht, was derjenige, der heute allgemein als Patron aller militanten Islamisten angesehen wird, verkörpert: Der ägyptische Muslimbruder-Ideologe Sayyid Qutb, der 1966 unter Nasser hingerichtet wurde, war nun wirklich alles andere als sexy, wobei die typische melancholische Osama-Bin-Laden-Ikonografie vom Vorbild Qutb auch wieder nicht so weit weg ist. Haben sie ausgedient, gibt es neue Ikonen?

Es herrscht eine ziemliche Einigkeit unter Islamwissenschaftern, dass dem Phänomen Al-Kaida oder, weiter gefasst, dem globalen Jihadismus eine begrenzte Lebensspanne beschert sein wird (natürlich mit Ausnahme jener Islamwissenschafter, die sich der gleichermaßen islamistischen wie islamophoben essenzialistischen Ansicht anschließen, beim Jihadismus handle es sich um "den Islam" ). In der heutigen Form ist der Jihadismus jedenfalls unzweifelhaft eine moderne Bewegung - und wenn das Wort "modern" für Stirnrunzeln sorgt, muss man eben ergänzen, dass mit modern hier neuzeitlich, gegenwärtig, und nicht progressiv gemeint ist.

Olivier Roy etwa sieht im Jihadismus eine "pathologische Folge der Verwestlichung des Islam" . Er weist in einem Artikel in der Zeit 2005, geschrieben als Reaktion auf die Attentate von London, vor allem auf die durch die Migration zerrissene Verbindung von Religion und Gesellschaft der Muslime im Westen hin. Aber die Befunde für die nahöstlichen muslimischen Gesellschaften zur Mitte des 20. Jahrhunderts fallen nicht viel anders aus, also zu jener Zeit, als Qutb seine unglaubliche Frustration, seinen Hass auf den Westen in Worte fasste - die seine Anhänger als Anweisungen zum Handeln aufnahmen.

Die Welt außerhalb

Naguib Mahfuz hat es meisterhaft verstanden, in seinen Büchern den Widerspruch zu beschreiben, in dem seine Figuren leben, zwischen den verschiedenen Welten innerhalb und außerhalb ihrer Türschwellen. Um sich das zu vergegenwärtigen, genügt es, sich einen der Konzertmitschnitte der Sängerin des arabischen Nationalismus, Umm Kulthum, anzusehen: Wie die Frauen da in der Kairoer Oper sitzen, ärmellos, rauchend, das bringt man übrigens auch mit den Bildern des heute reislamisierten Ägypten nur mehr schwer in Einklang.

Darüber, ob Qutb wirklich für alle islamistischen Übel, die nach ihm über die Welt gekommen sind, verantwortlich ist, gibt es immer wieder Diskussionen. Erwähnt wurde ja schon Lia, der meint, dass das qutbistische theoretische Ideengebäude zur Rekrutierung für den globalen Jihad viel zu kompliziert gewesen wäre.

Muhammad Sameer Murtaza arbeitet in seinem kürzlich erschienenen Buch Die ägyptische Muslimbruderschaft den Trend gut heraus, Qutb von der Verantwortung für die Umsetzung seiner Theorien in die Praxis, die letzten Endes zu Al-Kaida führte, freizusprechen. Dazu gehört die vom Autor geteilte Meinung, dass Qutb am Schluss erkannte, dass "Gewalt nichts verändert. Ihm fehlte nur die Zeit, diesen Gedanken niederzuschreiben" .

Wie auch immer. Auch Qutbs Bruder Muhammad - der nach der Hinrichtung Sayyid Qutbs eine große Rolle dabei spielte, den Qutbismus nach Saudi-Arabien zu tragen - betont demnach, dass Sayyid Qutb sich selbst nur als Prediger und nicht als Richter über andere gesehen habe.

Das bezieht sich auf den unseligen "takfir" , das "zum Ungläubigen Erklären" (eine Art Exkommunikation), das viel Leid über Muslime gebracht hat: Denn durch das Absprechen des Muslim-Seins ist der Weg frei, sie zu töten. (Läuten da nicht die Glocken, die Kirchenglocken?) In der Weiterentwicklung ist es nicht mehr nötig, das Individuum für abgefallen und vogelfrei zu erklären. Denn wenn es der Staat ist - beziehungsweise dessen Regierung - dann sind es alle seine Subjekte.

Die Idee, dass ein Apostat zu töten sei, geht nicht auf Qutb zurückgeht, sondern auf den Ahnherrn aller militanten Islamisten, Ibn Taymiya (gestorben 1328). Aber Qutb "entwickelte eine Beschreibung der ägyptischen und anderen Gesellschaften als Ausdruck einer neuen Ungläubigkeit, die er begrifflich mit der vorislamischen Zeit des Unglaubens, der Jahiliya, gleichsetzte" , schreibt Rüdiger Lohlker in seinem Materialien-Buch zum Jihadismus (Dschihadismus). Das war ein entscheidender Schritt.

Qutb ist eine äußerst komplexe Gestalt, und wer ihn sich als von der Gesellschaft zurückgestoßenen Spinner, der bloß auf diese Zurückweisung reagierte, vorstellt, liegt falsch (außer vielleicht, was seine Sexualität betraf). Publizistisch hatte er einigen Erfolg gehabt, als er vom ägyptischen Bildungsministerium 1948 in die USA geschickt wurde, um dort neue Unterrichtsmethoden zu studieren. Er war an verschiedenen Unversitäten zu Gast, um dann in Northern Colorado seinen Master in Pädagogik zu erwerben. Ein Foto in Murtazas Buch zeigt ihn mit dem Präsidenten der Universität, William Ross, der freundlich in einem Buch seines Studenten blättert - und der wohl keinen blassen Dunst davon hatte, wie angewidert dieser von der US-Gesellschaft war, die er fortan als den Hort des Bösen verteufelte.

Aber weiter in der Geschichte, die uns noch zu Osama Bin Laden führen muss. Zwar stehen die jihadistischen Abspaltungen von den Muslimbrüdern in Qutbs "Traditionslinie" (Lohlker), aber haben danach ihren eigenen Weg genommen: Al-Jama'a al-Islamiya und al-Jihad al-Islami, dem der Mörder von Anwar al-Sadat angehörte. Unter den nach dem Attentat 1981 massenhaft verhafteten Jihad-Mitgliedern war auch ein gewisser Ayman al-Zawahiri, der nach fünf Jahren Gefängnis und Folter Ägypten verließ und nach Peschawar auswanderte, um von dort am Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan teilzunehmen.

Ein zentraler Punkt der Weiterentwicklung des Qutbismus war die "vernachlässigte Pflicht" - so heißt ein Werk des Ägypters Abdelsalam Farag, also das "Gebot" zum Jihad. Es wurde vom aus Palästina stammenden Abdullah Yussuf Azzam zum Kampfgebot gegen die wahre oder imaginierte Besetzung islamischer Länder weiterentwickelt.

Azzam hatte in Ägypten studiert und war mit Leuten aus dem Umkreis Qutbs in Berührung gekommen. Nach einer Station in Jordanien landete er in Saudi-Arabien. Ziemlich sicher ist, dass er dort Muhammad Qutb, den bereits erwähnten Bruder Sayyid Qutbs, gekannt hat; ob damals schon Bin Laden zu ihm stieß, ist nicht ganz gesichert. Jedenfalls war dieser Student an der Abdel-Aziz-Universität in Jidda, als Azzam dort lehrte.

Azzam wurde durch die Ausweisung aus Saudi-Arabien auf den afghanischen Weg gebracht: 1979, als alle militanten Gruppen, durch die Islamische Revolution im Iran inspiriert, Morgenluft witterten, besetzte eine Gruppe um Juhayman al-Utaybi die Große Moschee von Mekka. Sie war ihrerseits aus einer Bewegung hervorgegangen, die ebenfalls zum Aktionismus aufrief: "das Gute gebieten" - und nicht einfach so zusehen, wie die islamische Gesellschaft von innen verrottet.

In Afghanistan führten die Wege aller zusammen. Osama Bin Laden gab dem saudischen Königshaus aber noch eine Chance: 1990, als nach der irakischen Besetzung Kuwaits auch Saudi-Arabien in Gefahr schien, bot er dem König seine gegen die Sowjets mithilfe des CIA erfolgreichen Afghanistan-Kämpfer an. Fahd holte stattdessen US-Truppen ins Land.

Nicht mit seiner Gewalt, aber mit seiner gegen den Westen gerichteten Botschaft hat Osama Bin Laden viel Erfolg gehabt - für traditionalistische Muslime ist aber nicht nur das Morden abstoßend, sondern auch das revolutionäre Element seines Tuns.

Revoltieren ist unislamisch

Die ägyptischen Salafis sind ein gutes Beispiel dafür: Anders als die spät, aber doch aufgesprungenen Muslimbrüder schlossen sie sich der Revolte gegen den verhassten Hosni Mubarak nicht an - denn eine Revolte sei unislamisch und deshalb nicht erlaubt! Diesen letztlich unerträglichen Widerspruch lösten sie auf, indem sie später das "Resultat" der Revolte guthießen - und sich jetzt zaghaft in die Politik begeben.

Al-Kaida hingegen lobt die Revolten, besonders gut dürfte ihr die syrische gefallen, gerät dort, nach ihrem Verständnis, mit dem Alawiten Assad doch jemand wie ein Bastard des Islam in Bedrängnis. Die Frage, ob Al-Kaida die Befreiung von den postkolonialen Regimen aber auch als postkolonialistische Befreiung an sich akzeptiert, ist hingegen offen. Wir werden es früh genug erfahren. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.9.2011)